Kurdische Demonstrationen in Deutschland "Wir stehen an einem Wendepunkt"
Am kurdischen Neujahrsfest sind bundesweit Tausende auf die Straße gegangen. Grund ist der eskalierende Konflikt zwischen Kurden und der Türkei. Der Konflikt könnte auch nach Deutschland exportiert werden, sagt der Politikwissenschaftler Burak Çopur im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Anlässlich des kurdischen Neujahrsfests wollen am Wochenende in Hannover Zehntausende auf die Straße gehen. Die Veranstalter gehen von 30.000 Teilnehmern aus. Worum geht es bei dieser Demonstration?
Burak Çopur: Der Anlass wird neben dem Neujahrsfest das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte gegen die PKK und die kurdische Zivilbevölkerung im Südosten der Türkei sein. Über hunderte Zivilisten sind durch die Angriffe der türkischen Sicherheitskräfte bereits ums Leben gekommen. Die türkischen Truppen setzen auch Panzer und andere schwere Waffen ein. Die kurdischen Städte werden regelrecht weggebombt. Teilweise sieht es dort mittlerweile aus wie in einigen Städten Syriens.
tagesschau.de: Demonstrationen gegen das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte waren ja nicht verschwunden. Warum steigt die Zahl der Demonstrationsteilnehmer jetzt wieder so stark an?
Çopur: Die Teilnehmerzahlen wachsen, weil auch der Krieg im Südosten der Türkei eine neue Dimension erreicht hat. Das bekommen die kurdischstämmigen Menschen in Deutschland natürlich mit. Das erneute Aufflammen des Konflikts macht ihnen große Sorgen. Deshalb gehen sie wieder vermehrt auf die Straße.
tagesschau.de: In den Neunzigern wurde der Konflikt zwischen Kurden und Türkei auch in Deutschland gewaltsam ausgetragen. Die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK hatte damals hierzulande mit Brandanschlägen, Selbstverbrennungen und Autobahn-Blockaden für ihre Ziele gekämpft. Besteht angesichts der Eskalation der Gewalt in der Türkei auch in Deutschland die Gefahr neuer Anschläge?
Çopur: In Deutschland leben ca. drei Millionen Menschen aus der Türkei, davon sind ca. 800.000 Kurden. Da besteht natürlich immer die Gefahr, dass der innertürkische Konflikt auch hierher exportiert wird. Dass die PKK jedoch in Deutschland wieder Anschläge verübt, halte ich eher für unwahrscheinlich. Das würde sie international noch mehr in Misskredit bringen - und zwar in einer Zeit, in der der syrische Ableger der PKK, also die YPG, gemeinsam mit den Amerikanern erfolgreich gegen den Islamischen Staat (IS) kämpft. Angesichts dieser internationalen Aufwertung würde es mich wundern, wenn die PKK zu den Taktiken der neunziger Jahre zurückkehren würde. Man kann allerdings nie ausschließen, dass es auch hierzulande von PKK-Ablegern zu Anschlägen auf türkische Einrichtungen kommt.
tagesschau.de: Kommt Deutschland angesichts der großen kurdischen Gemeinschaft hierzulande eine Sonderrolle zu?
Çopur: Deutschland könnte angesichts seiner drei Millionen Bürger türkischer Herkunft eine Vermittlerrolle übernehmen. Es wäre fatal, wenn sich das vergiftete türkische Klima in der Kurdenfrage auch auf die Türkeistämmigen hierzulande auswirken würde. Das würde das Zusammenleben enorm erschweren und die Integration der Türkeistämmigen behindern.
tagesschau.de: Was unterscheidet die Situation heute von der von vor zwanzig Jahren?
Çopur: Wir stehen heute an einem Wendepunkt in der Kurdenfrage. Durch den Kampf gegen den IS sind die Kurden zu wichtigen, international aufstrebenden Akteuren geworden. Ihr Selbstvertrauen ist enorm gewachsen. Deshalb geht es den Kurden heute nicht mehr nur um kulturelle Rechte, sondern auch um ihre territoriale Autonomie. Es gibt mittlerweile ein selbstverwaltetes Kurdengebiet im Irak und die drei selbstverwalteten, autonomen Kantone im Norden Syriens haben vor einigen Tagen eine Föderation ausgerufen.
tagesschau.de: Seit dem vergangenen Sommer ist das im Jahr 2013 geschlossene Friedensabkommen zwischen PKK und türkischem Staat faktisch aufgekündigt. Das türkische Militär bombardiert kurdische Stellungen, kurdische Gruppen verüben Terroranschläge in der Türkei. Wie konnte es wieder soweit kommen?
Çopur: Das hat vor allem innenpolitische Gründe. Die AKP hatte bei den Wahlen im Juni 2015 die Alleinregierung verloren. Staatspräsident Erdogan hat daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass ihm seine Unterstützung des Friedensprozesses mit den Kurden politisch nichts gebracht hat. Erdogan will die Türkei politisch umbauen - von einem parlamentarischen System hin zu einem autoritären Präsidialsystem. Diesem Ziel hat die kurdische Partei HDP einen Strich durch die Rechnung gemacht, als sie im Juni 2015 ins Parlament einzog und so die absolute Mehrheit der AKP beendete. Erdogans Ziel ist es nun, eine Verfassungsreform für sein Präsidialsystem entweder über ein Referendum durchzusetzen oder die HDP bei möglichen vorgezogenen Neuwahlen in diesem Jahr wieder aus dem Parlament zu drängen. Deshalb setzt er jetzt auf die nationalistische Karte und heizt den Konflikt weiter an.
Die EU, die USA, die Türkei, der Irak und weitere Staaten stufen die PKK als terroristische Vereinigung ein. Die deutsche Organisation der PKK wurde 1993 vom Bundesinnenministerium verboten.
tagesschau.de: Welche Rolle spielt die PKK in diesem Konflikt?
Çopur: Sie trägt natürlich eine Mitverantwortung an der Eskalation. Die PKK schadet der prokurdischen HDP und unterstützt durch ihre brutalen Terroranschläge indirekt Erdogans Ziel einer Alleinherrschaft. Sie trägt den Krieg in die West-Türkei - ohne Rücksicht auf Zivilisten, wie vor kurzem in Ankara. Diese Kriegsstrategie sorgt dafür, dass sich die Fronten weiter verhärten und stärkt damit das Erdogan-Regime - denn in unsicheren Zeiten suchen die Menschen Halt und Zuflucht bei einem "starken Mann." Und gerade auf diese Angst der Menschen setzt Erdogan.
tagesschau.de: Der Konflikt zwischen der Türkei und den Kurden dauert nun bereits Jahrzehnte an. Ist eine Lösung überhaupt vorstellbar?
Çopur: Die Türkei war sehr nah an einer Lösung, doch das ist vorbei. Die PKK will den Sturz Erdogans, die AKP will wiederum die PKK komplett beseitigen. Beide Ziele sind mit Waffengewalt nicht zu erreichen. Wie in jedem bewaffneten Konflikt werden die Parteien irgendwann an den Verhandlungstisch zurückkehren müssen. Doch bis es soweit ist, wird sich die Gewaltspirale weiter drehen. Dem Land steht vermutlich ein sehr blutiger Sommer bevor.
tagesschau.de: Was kann die Europäische Union tun, um zur Beilegung des Konflikts beizutragen?
Çopur: Alleine wird es die EU nicht schaffen. Der Kurdenkonflikt hat sich längst internationalisiert. Ohne die USA wird er nicht beizulegen sein. Die EU könnte allerdings versuchen, über die Beitrittsverhandlungen Druck auf die Türkei auszuüben - es ist allerdings fraglich, ob das Regime in Ankara in dieser Frage mit sich reden lässt. Man sollte jedoch alle Bemühungen unternehmen, denn die Türkei darf nicht mehr weiter ins Chaos abdriften.
Die Situation der Kurden im Südosten der Türkei verschärfte sich Mitte der 80er-Jahre, als die verbotene Untergrundorganisation PKK den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat aufnahm. Tausende Menschen wurden getötet, darunter auch viele kurdische Zivilisten.
Seit der Verhaftung des PKK-Führers Abdullah Öcalan und dem Druck der Europäischen Union auf die Türkei, die Menschenrechte einzuhalten, hat sich die Situation etwas entspannt. Dennoch beklagen viele türkische Kurden nach wie vor Diskriminierung, staatliche Repression und Gewalt.
tagesschau.de: Ist es angesichts der Verhandlungen zwischen EU und Türkei im Zuge der Flüchtlingskrise überhaupt vorstellbar, dass Europa in der Kurdenfrage Druck auf Ankara ausübt?
Çopur: Die EU ist in der Flüchtlingsfrage auf die Kooperation der Türkei angewiesen. Mit der beschlossenen EU-Türkei-Vereinbarung wird es noch schwerer, Druck auf Ankara auszuüben. Es sollten jedoch alle internationalen Wege genutzt werden, um eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts herbeizuführen. Ansonsten wird sich die Instabilität der Türkei langfristig auch auf die Sicherheit Europas auswirken. Ein weiteres Zuschauen beim Entstehen eines zweiten Syriens, diesmal vor den Toren Europas, kann sich die EU angesichts der Flüchtlingsproblematik nicht mehr leisten.
Das Interview führte Julian Heißler, tagesschau.de