Vor Treffen mit Ministerpräsidenten "Merkel hat noch Disziplinierungsmacht"
Dass das heutige Bund-Länder-Treffen erstmals wieder physisch stattfindet, könnte von Vorteil für Merkel sein, meint Politologe Korte. Einfluss habe die Kanzlerin auch deshalb, weil sie in der Politik nichts mehr werden will.
tagesschau.de: Heute trifft sich Angela Merkel erstmals seit Juni wieder persönlich mit den Ministerpräsidenten, um über die angespannte Corona-Lage zu sprechen. Zuletzt hatte man allerdings den Eindruck, bei den Länderchefs macht ohnehin jeder, was er will. Was kann Merkel überhaupt noch ausrichten?
Karl-Rudolf Korte: Sie soll ja darauf hingewirkt haben, dass diese Begegnung in jedem Fall physisch stattfindet. In so einer persönlichen Begegnung kann sich eine ganz andere Solidarität entwickeln als in einer Videoschalte. Wenn alles nur digital stattfindet, führt das zu Verlusten, das wissen wir seit März. Zu Wissensverlusten, aber auch zu Verlusten beim Kompromisswillen und Besinnen auf Gemeinsamkeiten. Merkels Chance, auf die Ministerpräsidenten einzuwirken, ist also formal größer, weil man sich wieder sieht und interagiert.
Und Merkel hat nach wie vor eine Disziplinierungsmacht, einerseits, weil sie nichts mehr werden will. Dadurch hat sie eine ganz eigene Autorität, die sie sich auch als Amts- und als Fachautorität erarbeitet hat. Andererseits steht für die, die dort am Tisch sitzen - die Parteien der politischen Mitte - sehr viel auf dem Spiel. Bisher profitiert die politische Mitte in dieser Krise, wir stehen im internationalen Wettbewerb gut da. Dabei hat Merkel einen entscheidenden Beitrag geleistet. Und natürlich gibt es ein Interesse aller Beteiligten, einen Kurs zu finden, mit dem das so bleibt.
Karl-Rudolf Korte ist seit 2002 Professor für Politikwissenschaft an der Uni Duisburg-Essen und leitet dort die Forschungsgruppe "Regieren" sowie die "NRW School of Governance". Er gilt als Experte für Parteistrategien, Wahlkämpfe und Wählerverhalten.
"Merkel, die Kanzlerpräsidentin"
tagesschau.de: Was will Merkel eigentlich durchsetzen?
Korte: Sie ist eine Kanzlerpräsidentin. Sie setzt ihre Kraft und Macht ihrer Quasi-Präsidentschaft hier im Parteienwettbewerb ein. Sie agiert also quasi überparteilich, insofern ist sie auch frei, in ihren Positionen kooperativ zu führen. Wie sie sich in Bezug auf die einzelnen zu diskutierenden Maßnahmen - also Beherbergungsverbot, Bußgelder, Maskenpflicht und so weiter - positionieren wird, ist unklar. Klar ist in jedem Fall, sie will ein exponentielles Wachstum der Ansteckungen verhindern, sie will aber auch auf keinen Fall einen neuen Lockdown.
Bisher hat sie so agiert, dass sie auf die Selbstwirksamkeit der Menschen gesetzt hat, auf die Bürger, die die Maßnahmen einsehen, wenn man sie erklärt und begründet. Ich glaube, diese Grundlinie wird sich nicht verändern, sie wird nicht plötzlich in ein Regiment des Anordnens verfallen, sondern weiter vehement und leidenschaftlich beim Bürger auf Unterstützung setzen. Sie nutzt kuratiertes Regieren eher als appellative Anordnung.
"Mehr Einheitlichkeit wäre Erfolg"
tagesschau.de: Wird Merkel auf mehr Einheitlichkeit drängen?
Korte: Sicherlich wäre etwas mehr Einheitlichkeit schon ein Erfolg. Aber bisher ist Teil unserer Widerstandsfähigkeit und Resilienz, dass wir Unterschiede zulassen. Dass wir Dezentralität und Vielfalt für zukunftstauglich halten und nicht nur als Flickenteppich diskreditieren. Regional und vor Ort weiß man viel besser über die Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit verschiedener Maßnahmen Bescheid, da sind bundesweite Regelungen wenig sinnvoll.
Wir sehen auch im Vergleich zu anderen: Föderal organisierte Länder sind besser dran, wenn sie die Unterschiede auch zulassen. Dadurch kommt es auch zu Lerneffekten untereinander. Dennoch gibt es eine Art Rahmenordnung, um Maßnahmen erklären und begründen zu können, damit der Bürger überhaupt noch etwas versteht. Ich denke an dieser Rahmenordnung wird Merkel versuchen, weiterzuarbeiten. Durch das Setzen des Rahmens gibt sie der Rettung eine Richtung.
"Wenn es schief läuft, sind Länder verantwortlich"
tagesschau.de: Welche Handhabe hat Merkel eigentlich formal bei diesem Thema, wenn die Länder im Grunde alles selbst entscheiden können?
Korte: Formal gilt ja nur das Epidemiegesetz und das ist in der Umsetzung in der Hoheit der Länder - und der Landeschef entscheidet. Der Bund kann lediglich finanzielle Mittel zugänglich machen. Merkel hat ja nach den ersten Wochen der Krise praktisch auch die Verantwortung den Ländern übertragen. Damit ist klar: Wenn es schief läuft, sind die Länder dafür verantwortlich - und nicht der Bund. Und dieser Eigenverantwortung sind sich die Länder auch bewusst.
"Merkel spielt Macht durch Moderation aus"
tagesschau.de: War es nicht ein Fehler, dass Merkel damals am Ende des Lockdowns, als die Länderchefs sich mit raschen Öffnungen überboten, die Verantwortung an die Länder abgegeben hat?
Korte: Nein, man kann nur lernend nachjustieren. So wie wir über das Virus immer mehr lernen, lernen wir auch in einer Krisensituation veränderte Formate von Politikmanagement kennen. Merkel hat ihre Macht immer durch Moderation ausgespielt in all den Jahren und nicht, indem sie irgendetwas dirigistisch vorgibt.
Sie wirkte zwar damals von ihrer Körpersprache etwas enttäuscht. Aber sie hat ihre Position klar beim Wähler markiert. Nämlich, dass sie sich mehr Einheitlichkeit wünscht und gegen unkoordinierte Öffnungen ist. Dass die Verantwortung aber jetzt bei den Ländern liegt und sie entscheiden können, ob sie davon abweichen.
"Merkel wirkt fast seelsorgerisch"
tagesschau.de: Wie schlägt sich Merkel aktuell als Krisenmanagerin?
Korte: Man kann das von Umfragen ablesen, da bekommt sie sehr gute Zeugnisse. Sie ist in einem Modus des Kümmerns, wirkt fast schon seelsorgerisch. Sie geht die Themen lernend an und hat bisher mit ihren Einschätzungen Recht behalten. Neu ist, dass sie erstmals vielmehr begründet und erklärt. Vorher war sie eher erklärungsarm pragmatisch unterwegs, ohne zu sagen, was sie eigentlich macht.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.