Interview

Interview mit Extrembergsteiger "Der Berg ist völlig kommerzialisiert"

Stand: 28.05.2013 21:47 Uhr

Joerg Stingl hat als zweiter Deutscher den Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff bestiegen. Im Interview mit tagesschau.de kritisiert er den Abenteuer-Tourismus und erklärt, wie sich dadurch die Stimmung am höchsten Berg der Welt verändert.

tagesschau.de: Herr Stingl, wie schafft man es ohne eine zusätzliche Sauerstoffflasche auf den Mount Everest?

Joerg Stingl: Ich trainiere viel Ausdauersport. Das ist neben dem eigentlichen Klettern das wichtigste Training. Dazu habe ich mich vor meiner Besteigung 2001 lange in großen Höhen aufgehalten. Unter anderem habe ich als Vorbereitung den Pumori bestiegen, einen Siebentausender in Sichtweite des Everest. Das ist wichtig, um sich zu akklimatisieren. Und ich habe anscheinend eine körperliche Verfassung, die es mir erlaubt, mich länger in großer Höhe aufhalten zu können. Der letzte Punkt ist dann das mentale Training. Viele greifen zur Sauerstoffflasche, um die Erfolgsaussichten zu erhöhen, auch wenn sie vielleicht gar nicht müssten.

Zur Person

Joerg Stingl bestieg am 22. Mai 2001 als zweiter Deutscher den höchsten Berg der Welt ohne zusätzlichen Sauerstoff. Der studierte Maschinenbauer begann früh mit dem Leistungssport und nahm unter anderem 1980 im Schwimmen an den Olympischen Spielen teil.

tagesschau.de: Was war Ihr erster Gedanke als Sie auf dem Gipfel des Mount Everest standen?

Stingl: Es war ohne Frage ein erhebendes Gefühl - ich habe gespürt, dass ich den allerhöchsten Berg der Welt erklommen hatte. Man steht ganz oben, und auf allen Seiten geht es nur runter. An den Blick hinüber nach Tibet erinnere ich mich noch heute. Es war aber auch ein gehöriger Respekt dabei. Zwar wusste ich, dass die Quälerei des Aufstiegs ein Ende hatte - aber gleichzeitig hatten wir den Abstieg ja noch vor uns, und der ist häufig gefährlicher als der Aufstieg. Aber es hat ja letztlich alles geklappt.

tagesschau.de: Was macht den Reiz aus, sich der extremen Kälte und der Todesgefahr auszuliefern?

Stingl: Das sind vor allem zwei Dinge: Zum einen ist da die sportliche Herausforderung, ganz nach oben zu kommen. Du willst also wissen, ob du wirklich in der Lage bist, auf den höchsten Berg der Welt zu klettern. Zum anderen ist es eine mentale Frage. Wenn ich einen Plan habe, will ich diesen auch zu Ende bringen. Da kann es auch durchaus mehrere Versuche brauchen, denn gerade die letzten Meter vor dem Gipfel zu überwinden, ist eher eine Frage des Willens als des Körpers.

tagesschau.de: Der Massenansturm auf den Gipfel ruft einige Kritik unter erfahrenen Bergsteigern hervor. Reinhold Messner hat kürzlich gesagt: Was heute am Everest los ist, hat mit Bergsteigen nichts mehr zu tun. Teilen Sie diese Ansicht?

Stingl: Es ist natürlich verständlich, dass jüngere und auch zukünftige Generationen von Bergsteigern auch einmal auf den höchsten Gipfel der Welt klettern wollen. Aber ich muss Herrn Messner da Recht geben, dass sich die Situation am Berg radikal verändert hat. Das Bergsteigen ist völlig kommerzialisiert.

Es wird seit Jahren darüber diskutiert, die Zahl der Expeditionen zu begrenzen, aber leider werden es eher mehr. Dadurch wird es aber auch gefährlicher, etwa weil Staus in der sogenannten Todeszone ab 7000 Metern entstehen. Außerdem sind Leute am Berg unterwegs, die vom Technischen und vom Sportlichen her dort eigentlich nichts zu suchen haben.

tagesschau.de: Ist es unverantwortlich von den Veranstaltern, so viele Menschen auf den Mount Everest zu lassen? Denn immerhin sterben nach wie vor jedes Jahr zehn bis 20 Menschen auf dem Weg zum Gipfel.  

Stingl: Ich möchte mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen und behaupten, es sei unverantwortlich, aber es ist in jedem Fall unlogisch: Da finden sich Leute, die einfach nur das Geld mitbringen, sonst aber nicht viel. Nicht selten sind diese kommerziellen Bergsteiger schlecht vorbereitet, weil sie glauben, der Everest ist ein Berg wie jeder andere. Aber das ist eine ganz andere Welt, auch im Vergleich mit den übrigen Achttausendern! Die entscheidenden 300 Meter, die der Everest höher ist als etwa der Lhotse, machen einen riesigen Unterschied, und das wird häufig unterschätzt.

Auf der anderen Seite kann ich verstehen, dass die nepalesische Regierung den Tourismus unterstützt, denn so kommen Devisen in das leider recht arme Land. Die Sherpas können mit dem Geld, das sie bei einer sechswöchigen Expedition verdienen, ihre Familie etwa ein Jahr lang durchbringen.

tagesschau.de: In den ersten fünf Monaten des Jahres waren bereits mehr als 600 Menschen auf dem Gipfel. Welche Folgen hat dieser Ansturm der Touristen?

Stingl: Das eine ist, dass dadurch eben mehr Menschen sterben als nötig, übrigens sowohl Bergsteiger als auch Nepalesen. Es mag makaber klingen, aber viele Leichen werden am Berg zurückgelassen, weil eine Bergung zu gefährlich oder zu teuer ist. Ein anderes Problem ist der Müll. Obwohl regelmäßig Reinigungsexpeditionen durchgeführt werden, hat der Berg nicht mehr die Jungfräulichkeit, die er noch vor einigen Jahren oder Jahrzehnten hatte. 

Die Zahl der Personen am Berg wird immer größer, denn neben den Bergsteigern und den Sherpas gibt es ja jede Menge Hilfspersonal, wie Köche. Und je mehr Menschen dort sind, desto mehr Müll wird produziert.

tagesschau.de: Der älteste Mann, der den Everest bestiegen hat, ist 80 Jahre alt. Ist es heute überhaupt noch eine Herausforderung, den Gipfel zu erklimmen?

Stingl: Kommerzielle Expeditionen garantieren heutzutage für alles. Die Routen sind vorbereitet und genau geplant, sie sind meistens versichert, kurz: Man muss sich da als Bergsteiger eigentlich nur noch hochhangeln. Mit Bergsteigen, wie man es sich klassischerweise vorstellt, hat der Everest heute in der Tat nicht mehr viel zu tun.

Wer da mitgeht, hat eigentlich nicht die außergewöhnliche sportliche Leistung vollbracht, die es früher einmal war. Ich glaube, es ist eine größere Herausforderung, einen Siebentausender erfolgreich selbst zu besteigen, mit eigenen Routen, als sich einer geführten Tour auf den Everest anzuschließen.

tagesschau.de: Ist es für echte Profi-Bergsteiger wie Sie oder den Schweizer Ueli Steck überhaupt noch eine echte Herausforderung, auf den Mount Everest zu klettern?

Stingl: Mich wundert es ein bisschen, dass der Ueli es noch so oft versucht. Denn eigentlich gehört der Berg mittlerweile den kommerziellen Expeditionen. Individualisten haben es da schwer. Es sei denn, man sucht sich eine abgelegene Route raus, wo nicht so viel los ist. Dadurch hat der Berg ein bisschen seine Faszination verloren, zumindest für mich als Bergsteiger. Für die Nepalesen ist er aber nach wie vor der Sitz der Götter und wird deshalb nie seine Magie verlieren.

tagesschau.de: Im vergangenen Jahr kam es im Basislager zu einer Schlägerei zwischen Sherpas und einigen Bergsteigern. Wie ist die Situation zwischen den verhältnismäßig armen Nepalesen und den reichen Touristen, die sie auf den Gipfel bringen?

Stingl: Zu dem konkreten Vorfall kann ich nichts sagen, ich hoffe aber mal, dass es sich um einen Einzelfall handelt, der so schnell nicht wieder vorkommt. Es ist allerdings schon zu beobachten, dass der Umgangston durch den Ansturm der Massen etwas rauer geworden ist. In Kathmandu beispielsweise geht es meinem Empfinden nach nicht mehr so friedlich zu wie noch vor einigen Jahren. Es könnte deshalb sein, dass es am Everest häufiger zu solchen Auseinandersetzungen kommt.

tagesschau.de: Heute ist Bergsteigen ein High-Tech-Sport mit Sauerstoffgeräten und GPS-System. Bei der Erstbesteigung 1953 war das anders. War Edmund Hillary ein besonders zäher Bergsteiger?

Stingl: Man darf nicht vergessen, dass die Besteigung damals generalstabsmäßig organisiert war. Es gab sehr viele Träger und eine lange Planungsphase. Schließlich befand Edmund Hillary sich im Wettlauf mit anderen Alpinisten aus der Schweiz. Er ist aber auch deshalb so berühmt geworden, weil er sich im Nachhinein gut um die Sherpas und um die Menschen in Nepal gekümmert hat. Aber es war und bleibt natürlich eine außergewöhnliche Leistung, ganz klar.

Das Interview führte Alexander Steininger, tagesschau.de