Rita Süssmuth zum Asylstreit "Ich bin mehr als ernsthaft besorgt"
Die Fronten zwischen CDU und CSU sind verhärtet wie nie. Ist eine Trennung unabwendbar? Davor warnt CDU-Politikerin Rita Süssmuth im tagesschau.de-Interview eindringlich. Die Folgen will sie sich gar nicht ausmalen.
tagesschau.de: Können Sie sich erinnern, dass die Kluft zwischen den beiden Unionsparteien schon einmal so tief war?
Rita Süssmuth: Es hat immer mal wieder Konflikte gegeben. Ich erinnere mich an die Auseinandersetzungen um das Thema Aids, die Landwirtschaftspolitik und immer wieder auch die Migrations- und Integrationspolitik. Aber ich habe jetzt den Eindruck, dass wir es mit einer Eskalationsstufe zu tun haben, wo wir uns wirklich ernsthaft fragen müssen, wie kommen wir wieder raus? Die Auseinandersetzung dauert ja jetzt schon etwa ein Jahr und ihr Ausmaß droht vieles zu zerstören, was wir in Jahrzehnten aufgebaut haben.
Denn es geht nicht nur um einen Streit zwischen Schwesterparteien. Das gesamte Parteiensystem nimmt Schaden, denn das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeitsfähigkeit der Parteien nimmt stark ab. Wenn dieser Streit nicht beigelegt wird, hat das zudem starke Konsequenzen für unsere Handlungsfähigkeit in der Europäischen Union und die Regierungsfähigkeit der deutschen Regierung. Diese Verluste werden wir nicht wieder wettmachen können.
Rita Süssmuth war von 1985 bis 1988 als Bundesministerin zuständig für Jugend, Familie und Gesundheit (1986 um Frauenfragen erweitert) - und von 1988 bis 1998 Bundestagspräsidentin, sowie bis 2002 langjährige Vorsitzende der Frauen-Union der CDU. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag 2002 war die CDU-Politikerin in zahlreichen Gremien vertreten.
tagesschau.de: Glauben Sie, die Union kann diesen Konflikt wieder beilegen? Und wie könnte das gelingen?
Süssmuth: Ich weiß es nicht, ich bin mehr als ernsthaft besorgt. Es sollten jetzt Weckrufe durchs Land gehen, die uns im allerletzten Augenblick ermöglichen, Ideen zu entwickeln, um diese Eskalation wieder einzufangen. Das muss unter Demokraten möglich sein, erst Recht, wenn wir noch das C im Namen der Partei berücksichtigen wollen. Gestritten werden kann und muss in einer Demokratie, aber es kommt auf die Art des Streits an. Dabei ist mir wichtig, dass wir niemanden unter einen solchen psychischen Druck setzen, wie wir ihn jetzt verbreitet haben.
"Ich möchte mir das gar nicht vorstellen müssen"
tagesschau.de: Sie meinen, den Druck, unter dem Angela Merkel jetzt steht, weil sie innerhalb von zwei Wochen eine europäische Lösung finden muss?
Süssmuth: Ja. Unsere Bundeskanzlerin muss schon seit geraumer Zeit sehr großen Druck aushalten, der fast unerträglich ist. Erst ging es um die Frage der Obergrenze, jetzt um die Zurückweisungen an der Grenze. Und dabei geht es auch um die Art der Auseinandersetzung. Demokratie lebt vom Respekt vor- und von Kompromissen. Da darf es nicht zu Aussagen kommen, wie: Mit der Frau kann ich nicht mehr arbeiten.
tagesschau.de: Glauben Sie, dass es wirklich zu einer Trennung kommen könnte oder vielleicht sogar muss?
Süssmuth: Ich halte es nur dann für realistisch eine Trennung noch abzuwenden, wenn alle Beteiligten begreifen, was auf dem Spiel steht. Es ist eine sehr gefährliche Situation, ich möchte mir das Szenario gar nicht vorstellen müssen und deshalb rufe ich dringend dazu auf: Vermeidet diese Trennung, vermeidet es, alles aufs Spiel zu setzen, was auch vorherige Generationen in Jahrzehnten aufgebaut haben.
"Wir haben nicht so starken Zeitdruck"
tagesschau.de: Wie könnte eine Deeskalation aussehen?
Süssmuth: Möglicherweise brauchen wir noch mehr Zeit. Ich sehe auch nicht, dass wir in der Frage der Zurückweisungen einen so starken Handlungsdruck hätten, denn wir haben weit weniger Flüchtlinge im Augenblick als in den vorherigen Jahren und noch viel weniger illegale Flüchtlinge. Man müsste sich jetzt im kleinsten Kreis zusammensetzen - und dann in einem erweiterten kleinen Kreis und noch einmal versuchen zu Kompromissen zu kommen.
Unterschiedliche Meinungen sind völlig in Ordnung. Aber es ist höchste Zeit, dass wir unsere Bundeskanzlerin auch wieder an den Leistungen messen, die sie in der Vergangenheit und Gegenwart erbracht hat und nicht nur an kurzfristigen Dissensen oder Schwierigkeiten der Regierungsbildung. Nur so, ist auch weiteres Handeln möglich.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de