Interview mit Lehrer-Vertreter nach Amoklauf "Aggressiv zu sein ist schick"
Nach dem Amoklauf in Winnenden stehen auch die Lehrer unter enormer Belastung. Wie können solche Bluttaten verhindert und aufgearbeitet werden? Ludwig Eckinger, Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung, hält die Besinnung auf grundlegende Werte unserer Gesellschaft für die wichtigste Maßnahme.
Nach dem Amoklauf in Winnenden stehen auch die Lehrer unter enormer Belastung. Wie können diese Bluttaten verhindert und aufgearbeitet werden? Ludwig Eckinger, Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung, hält die Besinnung auf grundlegende Werte unserer Gesellschaft für die wichtigste Maßnahme.
Frage: Vor dem Amoklauf erweckte Tim K. den Eindruck, er sei ein ganz normaler Junge. Aber irgendetwas muss schief gelaufen sein. Wer hat versagt?
Eckinger: Es ist schwierig jemandem die Schuld zuzuweisen. Wir müssen aber viele Fragen stellen: Wie steht es um die Beziehungen der Menschen untereinander in unserer Gesellschaft? Zählen Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit und Konsequenz etwas? Haben wir wirklich genügend Interesse an den anderen? Wie wichtig sind uns Vertrauen und Wertschätzung? Sind Achtung und Würde der Persönlichkeit das Maß der Dinge in unserer Gesellschaft?
Wer findet bei uns die öffentliche Aufmerksamkeit? Ist es nicht eher so, dass aggressiv zu sein schick ist und jede kleinste Frustration mit größter Aggression beantwortet wird? Und verharmlosen nicht die Medien auch Gewaltvideos und Computerspiele in ihrer Darstellung? Sie behaupten, ihre Auswirkungen seien nicht groß. Dabei wissen wir seit vielen Jahren, dass die Gewöhnung an Gewalt, Habitualisierung genannt, und das Lernen von Gewalt, die Stimulanz , hoch bedeutend sind. All diese Fragen müssen wir beantworten. Für unsere Profession, nämlich die der Lehrer, ist die Situation im Moment schrecklich: Der Arbeitsplatz ist für die Schüler und uns zu einem höchst bedrohlichen Ort geworden.
Frage: Der Direktor der Albertville–Realschule hatte gestern noch über die Lautsprecher gewarnt: "Frau Koma kommt." Das war ein Code für die Lehrer. Wenn man so etwas hört, wundert man sich, dass selbst eine Kleinstadt-Schule einen solchen Code hat. Sind die Schulen bundesweit auf Amokläufe vorbereitet?
Eckinger: Seit der Bluttat im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt haben die Schulen Handreichungen bekommen, damit sie sich auf solche Situationen vorbereiten können - ähnlich wie früher auf Katastrophen. Das ist zwar eine tragische Konsequenz aus diesen Ereignissen, aber Realität.
Frage: Sie selbst sprechen die Konsequenzen an: Wie wird sich der Alltag an den deutschen Schulen nach diesem Tag verändern?
Eckinger: Ich spreche für meine eigene Klientel, die Lehrerinnen und Lehrer: Es ist natürlich unvorstellbar, dass man an den Arbeitsplatz geht und damit rechnen muss, getötet zu werden. Das ist ganz furchtbar, aber wir müssen jetzt zusammenhalten. Wir müssen uns in unserer kleinen Gemeinschaft, unserer Schule, auf die Werte besinnen, die eine Gemeinschaft eben zusammenhalten: Rücksichtnahme, Geduld, Anstand, Miteinander statt Gegeneinander, Fürsorge und Verantwortung. Gerade wir Lehrerinnen und Lehrer dürfen nicht resignieren, denn unser Mut muss der Gegenwart eine Hoffnung geben, damit Zukunft bleibt, und Schule lebt.
Das Interview führte Kerstin Petry von ARD-aktuell telefonisch im Sender EinsExtra. Es wurde für tagesschau.de transkribiert.