Interview

Interview mit Pflegeexperten Claus Fussek "Wer will nach Minuten gepflegt werden?"

Stand: 29.01.2009 11:14 Uhr

Die Zahl der Demenzkranken nimmt in Deutschland immer weiter zu. Ein Expertengremium schlägt deshalb vor, auch "kognitive Erkrankungen" als pflegebedürftig einzustufen. Warum das aber noch nicht reicht, erklärt der Pflegeexperte Fussek im tagesschau.de-Interview.

Die Zahl der Demenzkranken nimmt in Deutschland immer weiter zu. Ein Expertengremium schlägt Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt deshalb vor, auch "kognitive Erkrankungen" als pflegebedürftig einzustufen. Warum das nicht viel mehr als eine "Hinhaltetaktik" sei, sagt der Pflegeexperte Claus Fussek im tagesschau.de-Interview.

tagesschau.de: Teilen Sie die Kritik, dass die Pflegeversicherung Demenzkranke bisher benachteiligt?

Fussek: Das ist ja der Grund, weshalb jetzt auf allen Ebenen plötzlich hektisch Handlungsbedarf angemahnt wird. Meine Tante beispielsweise leidet unter Alzheimer. Sie wäscht sich alleine, kann alleine essen und laufen. Sie würde das Meiste aber nicht tun, wenn nicht jemand ständig bei ihr wäre. Man kann sie für keine halbe Stunde alleine lassen, weil sie sonst weglaufen würde. Sie muss sich aber glücklich schätzen, dass sie überhaupt Pflegestufe eins bekommt. Wäre sie bettlägerig, würde sie in jedem Fall in eine höhere Pflegestufe kommen. Das ist ungerecht. Demenzkranke sind nach dem gegenwärtigen System also wirklich benachteiligt.

tagesschau.de: Was bedeutet nach aktueller Rechtslage der Begriff "pflegebedürftig"?

Claus Fussek: Es gibt momentan drei Pflegestufen. Stufe eins heißt, dass man mindestens auf 90 Minuten Hilfe am Tag angewiesen ist, wobei es sich dabei überwiegend um eine Grundpflege handeln muss - wie Toilettengänge oder Nahrungsaufnahme. Stufe zwei beinhaltet zwei Stunden am Tag, die dritte Stufe rund fünf Stunden.

"Zur Person " "Claus Fussek"
Claus Fussek gilt als einer der bekanntesten Pflegekritiker Deutschlands. Der 55-jährige Diplom-Sozialpädagoge ist Mitglied im Leitungsteam des ambulanten Pflegedienstes "Vereinigung Integrationsförderung" und Autor zahlreicher Bücher. 2008 veröffentlichte er zusammen mit dem TV-Journalisten Gottlob Schober das Buch "Im Netz der Pflegemafia", in dem die Autoren über Missstände in der Pflegebranche berichten. Seine offenen Worte machen ihn zu einem gern gesehenen Gast verschiedener Fernseh-Talkshows.

tagesschau.de: Finden Sie diese Einteilung sinnvoll?

Fussek: Auf gar keinen Fall. Nach dem neuen Expertengutachten sollen jetzt zwar zwei neue Pflegestufen hinzukommen, aber die Problematik der Einstufung bleibt natürlich.

tagesschau.de: Was ist daran problematisch?

Fussek: Man muss sich doch einfach nur eines fragen: Wer will nach Minuten gepflegt werden? Ganz sicher niemand. Wer kann denn auch darüber Auskunft geben, wie lange er auf der Toilette oder beim Haarekämmen braucht? Trotzdem wird dieses Verfahren seit Jahren praktiziert, um Hilfsbedürftigkeit festzustellen. Wir haben ein System, das völlig an der Lebenswirklichkeit vorbeigeht. Was wir brauchen, ist ein Anreiz-System. Gute Pflege muss belohnt werden! Zurzeit passiert genau das Gegenteil: Nachlässige Pflege, die zur Verschlechterung der Gesundheit - und damit zu einer höheren Einstufung - führt, ist lukrativer. Das ist unsinnig. 

tagesschau.de: Die Zahl der Demenzkranken wird Schätzungen zufolge in den nächsten Jahren stark zunehmen. Hat die Bundesregierung das Problem nicht rechtzeitig erkannt?

Fussek: Das Problem hat sie definitiv rechtzeitig erkannt. Bereits 1995, bei der Einführung der Pflegeversicherung, war es ihr klar. Allerdings geht es bei dieser Frage um etwas ganz anderes - nämlich nur ums Geld. Damals, wie heute übrigens auch noch, wurde ein bestimmter Finanzrahmen festgelegt. Hätte man aber wirklich alle Pflegebedürftigen miteinbezogen, wäre dieses Finanzierungskonzept kollabiert. Deshalb hat man nur aus finanziellen Gründen die Zugangsvoraussetzungen verändert. Da hatten die Demenzkranken eben Pech.

tagesschau.de: Das Expertengutachten schlägt jetzt vor, zukünftig auch "kognitive, psychische" Erkrankungen als pflegebedürftig gelten zu lassen. Ist das nicht vernünftig? 

Fussek: Es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Im Prinzip wäre es aber dennoch viel besser, die Pflegestufen einfach abzuschaffen und stattdessen ein überschaubareres, weniger bürokratisches und damit lebensrealistischeres System zu schaffen. Zurzeit bekommen die Menschen in den meisten Heimen noch nicht einmal jetzt die Leistungen, die ihnen gesetzlich zustehen. Kein pflegebedürftiger Mensch erhält gegenwärtig pro Tag 90 Minuten Hilfe in einem Pflegeheim. Geschweige denn fünf Stunden. Das ist völlig unrealistisch.

tagesschau.de: Trotzdem soll es laut Gutachten nicht mehr Geld geben. Stattdessen sollen die Mittel neu verteilt werden.

Fussek: Da merkt man doch, dass das eigentliche Problem gar nicht erkannt wird. Das ist eine Form von Aktionismus, die uns nicht weiterbringt. Es wird nur wieder viel Zeit verstreichen, in der nichts passiert. Das wirkt schon sehr nach Hinhaltetaktik. Pflegebedürftige Menschen haben in diesem Land eben keine starke Lobby.

tagesschau.de: Sie glauben also, dass das Expertengremium teilweise nur eine Feigenblatt-Funktion übernimmt?

Fussek: Der Pflegebedürftigkeits-Begriff sollte seit Jahren reformiert werden. Jeder hat gesagt, dass eine Pflegeversicherungsreform ohne einen erweiterten Begriff gar keine Reform ist. Dazu gab es aus keinem Verband einen Widerspruch. Daraufhin wurden alle in dieses Gremium mit eingebunden. Jetzt sind in diesem 30-köpfigen Gremium wieder alle dabei, man durfte mitreden und damit wurde der Druck herausgenommen.

tagesschau.de: Sie rechnen also nicht mit raschen Veränderungen?

Fussek: Leider nein. Das Thema ist einfach kein gesellschaftspolitisches Thema. Es ist ja nicht einmal ein Wahlkampfthema. Es interessiert einfach niemanden.

tagesschau.de: Ist es dann ein Fehler, dass Pflegebedürftigkeit immer nur unter finanziellen Aspekten diskutiert wird?

Fussek: Im Grunde genommen ist das eine peinliche, beschämende und würdelose Diskussion. Was glauben Sie, wie sich alte und pflegebedürftige Menschen fühlen, wenn sie hören, dass sie eigentlich nicht zu finanzieren sind? Was sollen wir denn machen? Sollen wir die Alten erschießen? Dabei ist das nicht nur ein Problem der Politik. Wir sind eine Gesellschaft, die leidenschaftlicher über Themen wie die Rechtschreibreform und das Dosenpfand diskutiert, als über die Absicherung des Alters. Dabei sind die Herausforderungen doch offensichtlich. Es wird keine Familie in Deutschland geben, die nicht mit dem Problem Pflege oder Demenz konfrontiert wird. Es ist mir unbegreiflich, wie wir davor die Augen verschließen können.

Das Interview führte Niels Nagel, tagesschau.de