Nach der Steuerschätzung "Keine Lösung à la Münchhausen"
Fast drei Milliarden fehlen allein in diesem Jahr - so die aktuelle Steuerschätzung. Trotzdem plant die Bundesregierung Steuersenkungen. Warum er das für eine Haushaltspolitik "à la Münchhausen" hält und wo er stattdessen Sparpotenziale sieht, sagt Finanzexperte Konrad im tagesschau.de-Interview.
tagesschau.de: Die Zahlen der Steuerschätzung liegen jetzt auf dem Tisch - und sind alles andere als berauschend. Ist die Politik bei einer so angespannten Haushaltslage überhaupt noch handlungsfähig?
Kai Konrad: Ja. Kurzfristig wirken sich diese Zahlen kaum auf die politische Handlungsfähigkeit aus. Die Neuverschuldung fällt eben entsprechend höher aus. Deutschland wird zwar das Defizitkriterium des Europäischen Stabilitätspakts verfehlen. Aber in Brüssel wird die politische Reaktion darauf wohl moderat ausfallen. Schließlich sind die meisten Länder des Euroraums in einer noch schwierigeren Haushaltssituation. Und die Einführung von Verschuldungsgrenzen für Bund und Länder in der deutschen Finanzverfassung greift auch erst in einigen Jahren.
tagesschau.de: Werden die Probleme damit nicht nur verschoben?
Konrad: Keine Frage. Langfristig müssen die öffentlichen Haushalte dringend konsolidiert werden. Andernfalls droht uns ein ähnliches Schicksal wie Japan. Dort liegt die Staatsverschuldung heute bereits bei fast zweihundert Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Erreicht die Verschuldung erst einmal solche Dimensionen, wird es für die Politik und für die Bürger wirklich ungemütlich. Im schlimmsten Fall drohen dann Staatsbankrott, Hyperinflation und Währungsreform.
"Angekündigte Reformen bieten keinen Ausweg"
tagesschau.de: Trotzdem plant die neue Regierung aber Steuererleichterungen und hofft damit auf wirtschaftliche Impulse. Ist die Rechnung weniger Steuern gleich mehr Wirtschaftswachstum ein Ausweg aus der prekären Finanzlage?
Konrad: An eine Lösung des Haushaltsproblems à la Münchhausen durch Steuersenkungen glaube ich nicht. Das Problem ist struktureller Natur: Auch in der konjunkturellen Normallage gibt der Staat mehr aus als er durch Steuern einnimmt. Die nun diskutierte Erbschaftsteuerentlastung von Nichten und Neffen beispielsweise wird sicher kein neues Wirtschaftswunder auslösen. Was derzeit im Bereich der Unternehmensteuer diskutiert wird, um eine Substanzbesteuerung von Unternehmen in der Wirtschaftskrise zu vermeiden, erscheint da schon sinnvoller. Einen Ausweg aus dem Schuldenstaat bietet so eine Reform aber auch nicht.
tagesschau.de: Wie könnte denn ein Ausweg aussehen?
Konrad: Wenn es darum geht, die Bürger zu entlasten, um wirtschaftliche Impulse zu schaffen, dann sollte man lieber in der Energiepolitik umsteuern. Was den Bürgern beispielsweise an versteckten Abgaben über die gesetzlich regulierten Einspeisungstarife für Strom aus Wind und Sonne zugemutet wird, ist unverantwortlich. Zumal dadurch die europäischen CO2-Emissionen gar nicht sinken.
"Große Sparpotenziale im EU-Haushalt"
tagesschau.de: Würde das schon ausreichen, um den angespannten Haushalt zu sanieren?
Konrad: Alleine natürlich nicht. Da gib es noch etliche andere Posten. Eine große politische Chance bietet sich beispielsweise im Zuge der Neujustierung des zukünftigen Budgets der Europäischen Union im Rahmen des sogenannten „Budget Review“ Prozesses. Im EU-Haushalt gibt es große Sparpotenziale. Ein Thema sind die erheblichen Subventionen im Agrarbereich, von denen letztlich nicht die Landwirte, sondern die Landbesitzer profitieren. Ein weiteres Thema sind die Struktur- und Regionalhilfen. Deutschland finanziert über die EU die Infrastrukturinvestitionen in den neuen Mitgliedsländern, mit denen deutsche Unternehmen dort dann angelockt werden. Das kann man nicht wirklich gutheißen.
Und zweitens: ich möchte ungern die Rentner verunsichern. Aber man muss daran erinnern, dass die Zuschüsse des Bundes an die Rentenversicherung etwa ein Drittel des gesamten Bundeshaushalts ausmachen. Trotzdem haben die Rentner jüngst von der Vorgängerregierung erneut großzügige Zusagen erhalten.
tagesschau.de: Muss sich nicht grundlegend etwas am Umgang der Politik mit den Staatsfinanzen ändern?
Konrad: Nun hat es ja gerade eine Änderung in der deutschen Finanzverfassung gegeben, mit der die Aufnahme öffentlicher Kredite für Bund und Länder in wenigen Jahren stärker beschränkt werden soll. Die Wirkung der Reform muss man vielleicht abwarten. Ich bin aber skeptisch, was den Erfolg angeht. Die langfristige Entwicklung der Staatsschulden über die vergangenen dreißig Jahre stimmt sehr nachdenklich. Die Politik in Deutschland und in vielen anderen westlichen Demokratien neigt in gefährlicher Weise zur Staatsverschuldung.
Die Fragen stellte Niels Nagel, tagesschau.de