Interview

Prioritätenliste im Gesundheitssystem "Künstliche Hüfte erst bei Normalgewicht"

Stand: 19.05.2009 01:42 Uhr

Welche Behandlung muss sein? Welche kann warten, wenn das Geld nicht reicht? Ärztepräsident Hoppe fordert dafür eine Prioritätenliste. Das sei ohne Alternative, sagt Gesundheitsökonom Neubauer im Interview mit tagesschau.de. Übergewichtige will er stärker zur Kasse bitten.

Welche Behandlung muss sein? Welche kann warten, wenn das Geld nicht reicht? Ärztepräsident Hoppe fordert dafür eine Prioritätenliste. Das sei ohne Alternative, sagt Gesundheitsökonom Neubauer im Interview mit tagesschau.de. Übergewichtige will er stärker zur Kasse bitten.

tagesschau.de: Leisten wir uns zu viel Gesundheit?

Günter Neubauer: Das "zu viel" ist immer relativ. Wir sind dabei, zu viel für Gesundheit auszugeben - und zwar aus Sicht der Financiers, das sind vor allem die Jüngeren. Aber das "zu viel" sieht aus Sicht der Älteren, die vor allem von den Leistungen profitieren, ganz anders aus. Bei denen wird es eher ein "zu wenig" sein.

Zur Person
Günter Neubauer ist Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomik (IfG) in München. Als Professor für Volkswirtschaftslehre arbeitete er 30 Jahre an der Universität der Bundeswehr in München.

tagesschau.de: Was treibt die Kosten im Gesundheitssystem in die Höhe?

Neubauer: Zu den Hauptfaktoren gehören die medizinischen Innovationen, die für eine älter werdende Bevölkerung von hoher Bedeutung sind. Und natürlich die Demokratie, die sagt: Von den Innovationen soll möglichst keiner ausgeschlossen werden - zumindest keine wichtige Wählergruppe.

"Prioritätensetzung fand schon immer statt"

tagesschau.de: Ärztepräsident Hoppe sagt, dass das Geld aus dem Gesundheitsfonds nicht mehr für alle Behandlungen reicht. Er fordert deshalb eine Prioritätenliste. Was würde das für die Patienten bedeuten?

Neubauer: Prioritätensetzung muss jeder betreiben, der begrenzte Mittel hat. Der Sinn dabei ist, dass man hochwertige, dringende Bedürfnisse vorrangig bedient und danach die weniger hochwertigen und weniger dringenden Bedürfnisse. Diese Prioritätensetzung fand und findet schon immer statt in allen Gesundheitssystemen.

tagesschau.de: Was ist das Neue an dem Vorschlag von Ärztepräsident Hoppe?

Neubauer: Dass es ein Arzt ausspricht und thematisiert, während man mit dem Thema bisher schweigend umgeht. Ganz allgemein: Ein Arzt, der im Krankenhaus zehn Stunden tätig ist, könnte auch 15 Stunden arbeiten. Aber er setzt Prioritäten und hört nach zehn Stunden auf. So ist das in der alltäglichen  Krankenbehandlung und in der gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt. Aber auch in der privaten Krankenversicherung gibt es die Prioritätenfestsetzung.

tagesschau.de: Wenn weniger dringende Behandlungen verschoben werden, bedeutet das zum Beispiel, dass ein künstliches Hüftgelenk möglicherweise ein Jahr später eingesetzt wird. Hat das nicht großen Einfluss auf die Lebensqualität der Patienten?

Neubauer: Das ist ganz sicher so. Aber man muss wissen, dass die Hüfteinsetzung keine dringende, aber eine wichtige Angelegenheit ist. Man muss abwägen, wie man Wichtiges - neue Lebensqualität - und Dringendes in Kombination bringt. Bei der Prioritätensetzung kommt ein Aspekt dazu, den auch Herr Hoppe meint: Es ist die Frage der Verursachung durch veränderbare Verhaltensweisen. Das heißt: Ein übergewichtiger Mensch sollte seine Hüfte erst erhalten, wenn er auf Normalgewicht kommt, weil dann diese Hüfte länger hält und er sich in dieser Form indirekt beteiligt. Zugleich ist dies eine Warnung an andere Übergewichtige, nicht erst alles in sich hineinzufuttern und die negativen Folgen von anderen finanzieren zu lassen.

tagesschau.de: Ist das nicht ungerecht für die Übergewichtigen, die ja wie alle anderen Beiträge gezahlt haben?

Neubauer: Die Übergewichtigen würden in einer privaten Versicherung höhere Beiträge zu zahlen haben. Denn sie belasten durch ihr Übergewicht die Versichertengemeinschaft stärker. In der Solidargemeinschaft zahlen die Übergewichtigen aber in der Regel niedrigere Beiträge, weil meist auch ihr Einkommen niedriger ist. Von daher ist das Gefühl der Gerechtigkeit auch von der anderen Seite zu sehen: Der Beitragszahler, der jeden Morgen aufsteht und joggt, um sein Gewicht zu halten, wird es als äußerst ungerecht empfinden, dass neben ihm jemand erst um 8 Uhr aufsteht, bis 10 Uhr futtert, Übergewicht hat und dann eine Hüfte braucht, für die er mitzahlen muss.

"Zuzahlung für Leistungen mit geringer Priorität"

tagesschau.de: Nach welchen Kriterien müsste man eine Prioritätenliste festlegen?

Neubauer: Die Kriterienliste soll helfen, dass Menschen, die wichtige und unaufschiebbare Leistungen brauchen, diese auf jeden Fall erhalten. Weniger wichtige Behandlungen sollen an Priorität verlieren. Gleichzeitig geht es darum, eine Zuzahlung von denen zu verlangen, die weniger wichtige Leistungen der Prioritätenliste erhalten. Es geht also nicht nur um eine zeitliche Verschiebung, sondern auch um die finanzielle Verantwortung des Einzelnen.

tagesschau.de: Wer im Gesundheitssystem würde von einem solchen Prioritätensystem profitieren?

Neubauer: Davon profitieren alle. Denn die Finanzierbarkeit unseres Systems, wie es heute läuft, ist auf mittlere Sicht nicht zu gewährleisten. Natürlich profitiert zuerst die jüngere Generation, die viel an Finanzmitteln aufzubringen hat und wenig Leistungen braucht. Umgekehrt würden Ältere, die mehr Leistungen in Anspruch nehmen als sie finanzieren, eher benachteiligt sein. Aber das System dient auch den Älteren, weil dann für Behandlungen in lebensbedrohlichen Situationen auch die Mittel zur Verfügung gestellt werden können.

Das Interview führte David Rose, tagesschau.de.