Interview mit Politologe Wolfgang Schroeder "Kein Vertrag - nur eine Absichtserklärung"
Die Würfel sind gefallen, der Koalitionsvertrag liegt auf dem Tisch. Wenn es denn ein Vertrag wäre - denn das bezweifelt Politikprofessor Schroeder im tagesschau.de- Interview. Er hält die Vereinbarung für ein "Scheingebilde", das "mehr den Charakter einer Absichtserklärung hat."
tagesschau.de: "Wir stellen den Mut zur Zukunft der Verzagtheit entgegen" heißt es im ersten Satz des Koalitionsvertrages. Wie mutig ist der Vertrag wirklich?
Wolfgang Schroeder: Mutig im klassischen Sinn ist er nicht. Eigentlich handelt es sich hier ja mehr um einen Etappenvertrag als um eine Koalitionsvereinbarung, die vier Jahre verbindlich gelten soll. Alles was zu Schwierigkeiten im Vorfeld der wichtigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 führen könnte, wurde ja ausgeklammert. Die eigentliche Arbeit geht erst nach der Wahl los.
tagesschau.de: Sie spielen auf die Entscheidung der Koalition an, im Jahr 2010 erst einmal eine Kommission einzusetzen, die dann 2011 das Gesundheitswesen grundlegen reformieren soll?
Schroeder: Es gibt aber auch noch andere Kommissionspläne. Allen ist allerdings eines gemeinsam: Sie stehen alle unter dem Vorbehalt der Haushaltslage. Daran können dann immer noch alle wohlklingenden Vorschläge sämtlicher neu eingesetzten Kommissionen scheitern.
Ankündigungen sind teilweise irrational
tagesschau.de: Klingt ein wenig nach Verschiebebahnhof…
Schroeder: … ist es zu großen Teilen auch. Es gibt aber durchaus auch sehr mutige Elemente im neuen Koalitionsentwurf. Zum Beispiel in der Steuerpolitik. Die sind dann aber zum Teil schon so mutig, dass sie ins Irrationale gehen. Nehmen Sie etwa die Ankündigung, dass selbst bei starker Verschuldung und bei steigenden Ausgaben auf Steuern verzichtet werden soll. Oder auch die wenigen konkreten Ankündigungen zur Gesundheitspolitik, die im Grunde die Verabschiedung von der paritätischen Finanzierung des Gesundheitswesens bedeuten - da war die neue Koalition dann doch mutiger als erwartet.
tagesschau.de: FDP-Chef Guido Westerwelle hat die liberale Handschrift des neuen Koalitionsvertrages betont. Zu Recht?
Schroeder: Das ist nicht so einfach. Schließlich ist die FDP mit ihren weitreichenden steuer- und sozialpolitischen Forderungen in keinem Bereich wirklich durchgekommen. Und auch von ihrem Engagement bei den Bürgerrechten, bei der Inneren Sicherheit, findet sich im Koalitionsvertrag kaum etwas.
Zugleich sind die Pläne zur Umgestaltung des Gesundheitssystems, im Sinne der Kopfpauschale, durchaus auch der Union nicht fremd. Unverständlich ist, dass die Union es zulässt, dass die beiden entscheidenden Ämter, die die Gestaltung der sozialen Marktwirtschaft verantworten, also Gesundheit und Arbeit, nicht von ausgewiesenen Sozialstaatsexperten besetzt werden. Normalerweise ist es ja so, dass der große Koalitionspartner die Richtung bestimmt. Dieses Mal erleben wir anscheinend das Gegenteil. Die kleinere Partei, die FDP, scheint die Eckpunkte vorzugeben und die CDU gibt sich mit ihrer Rolle als Korrektiv zufrieden.
tagesschau.de: Wieso hat der große Partner CDU der FDP in den Verhandlungen so viel durchgehen lassen?
Schroeder: Das ist das Ergebnis der neuen Machtkonstellation zwischen Union und FDP, und vielleicht ist es ein wenig das Prinzip Hoffnung. Grundannahme der gesamten Koalitionsvereinbarung ist ja das Vertrauen auf ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Insofern ist es dann auch konsequent, auf eine angebotsorientierte Politik, wie sie die FDP schon immer propagiert hat, zu setzen. Da gibt es auf jeden Fall eine große Schnittmenge zwischen CDU und FDP.
tageeschau.de: Und die CSU ist dann die Verliererin der Verhandlungen?
Schroeder: Sie selbst sieht das natürlich nicht so und beansprucht für sich eine gewisse Urheberschaft in der Frage des Betreuungsgeldes, der regionalen Differenzierung des Gesundheitssystems und in dem Punkt, wo sie für ihre Bauern etwas herausgeholt hat. Allerdings gibt es im Bereich der Gesundheitspolitik schon Merkwürdigkeiten. CSU-Chef Seehofer hat noch 2004 das jetzt angekündigte Modell der "Kopfpauschale" vehement bekämpft und ist deshalb sogar als stellvertretender CDU/CSU-Fraktionschef zurückgetreten. Jetzt sagt er nichts mehr.
tagesschau.de: Spiegeln sich diese Verhandlungsergebnisse auch in den Ministerposten wider?
Schroeder: Die CDU alleine hat bei der Bundestagswahl ja deutlich mehr Stimmen gewonnen als FDP und CSU zusammen. Trotzdem begnügt sie sich mit der gleichen Anzahl von Ministerposten. Das ist schon erstaunlich, wobei bei den Ministerien nicht nur die Quantität eine Rolle spielt, sondern auch die Qualität. Und letztlich hat die Entscheidung, wer welches Amt übernimmt, auch immer etwas mit Macht-Arithmetik und Proporz zu tun. Nur so ist etwa zu erklären, dass Franz Josef Jung Arbeits- und Sozialminister wird. Das ist ein Zugeständnis an die hessische CDU und eine Missachtung der Bedeutung des Amtes.
tagesschau.de: Was bedeutet das für die Bundeskanzlerin?
Schroeder: Merkel muss ganz sicher ihren Stil ändern. In der Großen Koalition hat sie moderiert, in der Kleinen muss sie weitaus stärker das Prinzip der Richtlinienkompetenz für sich in Anspruch nehmen. Sie muss also weitaus mehr und deutlicher regieren als in der Vergangenheit.
tagesschau.de: Waren das alles in allem typische Koalitionsverhandlungen, oder gab es dieses Mal Besonderheiten?
Schroeder: Einerseits haben sie es relativ schnell hinbekommen, und auch das Klima der Verhandlungen war vergleichsweise gut - das erleichtert natürlich Koalitionsgespräche, ist aber eigentlich auch normal. Andererseits gab es aber auch Besonderheiten: Auffällig war, dass eigentlich in den gesamten Verhandlungen kein richtiges Profil deutlich wurde. Es fehlt sozusagen der Gedanke oder die Vision, die alles zusammenhält. Das ist alles sehr diffus, teilweise unklar und klingt sehr episodenhaft.
"Koalitionsvertrag des dreifachen Vorbehalts"
tageschau.de: Was meinen Sie damit?
Schroeder: Eigentlich ist das Ganze doch ein Koalitionsvertrag des dreifachen Vorbehaltes. Einmal unter dem der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, dem des Verschiebens in Kommissionen und schließlich noch dem der angespannten Haushaltslage. So gesehen, ist die Koalitionsvereinbarung deshalb auch gar kein richtiger Vertrag. Ein Vertrag muss ja rechtsgültige und nachprüfbare Positionen haben. Hier haben wir es mehr mit einem Scheingebilde zu tun, das eher den Charakter einer Absichtserklärung hat.
Die Fragen stellte Niels Nagel, tagesschau.de.