Interview zum "System Guttenberg" "Jeder andere wäre abgestürzt"
Der Doktortitel wurde ihm entzogen. Verteidigungsminister zu Guttenberg hat große Teile seiner Doktorarbeit abgeschrieben. Das ist Betrug. In den Umfragen aber ist der Minister nach wie vor beliebt wie kein anderer. Wie funktioniert das "System Guttenberg" eigentlich? "Er ist das, was man ein Idol nennt", sagt Sozialpsychologe Sollmann im Interview mit tagesschau.de. Um Glaubwürdigkeit gehe es gar nicht.
tagesschau.de: Der Doktortitel ist aberkannt, Betrugsvorwürfe stehen im Raum. Doch der Minister ist weiterhin außerordentlich beliebt - woran liegt das?
Ulrich Sollmann: Zuerst einmal zehrt der Minister von der Beliebtheit, die er vor der Plagiatsaffäre hatte. Eine Popularität, die sich nicht durch seine eher mäßigen politischen Erfolge erklärt und schon gar nicht durch die Ereignisse der letzten Tage. Jeder andere wäre abgestürzt.
tagesschau.de: Wie ist das zu erklären? Große Teile der Arbeit sind abgeschrieben. Das ist Betrug. Warum nimmt die Mehrheit der Bevölkerung ihm das nicht übel?
Sollmann: Jeder von uns hat schon mal geschummelt und ein schlechtes Gewissen gehabt. Wenn dann sogar ein Minister zu Guttenberg so handelt, dann wirkt das seelisch entlastend: die eigene Fehlbarkeit ist nicht mehr schlimm. Dabei geht es nicht um Objektivität und Tatsachen, sondern um seelische Realitäten. Und natürlich ist das sehr gefährlich für die gesellschaftliche Moral insgesamt.
tagesschau.de: Wenn Lieschen Müller klaut, kann das Urteil der Bevölkerung sehr hart sein. Warum ist das bei Verteidigungsminister zu Guttenberg anders?
Sollmann: Er ist das, was man ein Idol nennt. In die Sozialwissenschaft übersetzt heißt das: Er bietet viele Identifikationsmuster. Schon ästhetisch ist er ein Gegenmodell zum bisher gängigen Politiker. Er sieht gut aus, das wird in der Politik immer wichtiger. Er strahlt Sicherheit und Dynamik aus. Er trägt einen Adelstitel - und lebt dies auch aktiv: Er wohnt auf einem Schloss, ist Millionär, hat eine schöne, blonde Frau. Das ist eine neue Dimension dessen, was in Zeitschriften wie "Gala" und "Bunte" so gut funktioniert: Die Geschichten von den Schönen, Reichen, Adeligen - mit denen wir uns umso lieber identifizieren, je unsicher die eigene gesellschaftliche Position ist, je größer die Verarmungsängste sind.
Er bietet aber noch andere Rollen zur Identifikation: Nehmen Sie das "ACDC"-T-Shirt, das zu Guttenberg im Wahlkampf 2009 trug. Das ist volksnah, das wirkt symphatisch. Seine Frau, so erzählt er medienwirksam, hat er auf der Love-Parade kennengelernt. Er gibt sich als "einer von uns", gleichzeitig als Held, als Idol. So funktioniert Populismus. Und dann seine Inszenierung als Verteidigungsminister: zum Beispiel Weihnachtsbesuch bei den Soldaten in Afghanistan mit Ehefrau. Bei den Menschen entsteht das Bild: der ist stark, der kümmert sich, der gibt Sicherheit. So entstehen Heldenbilder.
tagesschau.de: Wie wirkt er jetzt in der Krise?
Sollmann: Der Verteidigungsminister polarisiert in seinem Auftreten sehr stark - zum Beispiel in der Aktuellen Stunde im Bundestag. Sowohl seine Gegner als auch seine Unterstützer haben ungewohnt emotional agiert. Auch das erklärt, warum seine Fangemeinde umso fester zu dem Minister steht und seine Beliebtheit sogar noch wächst.
tagesschau.de: Wie hat sich der Verteidigungsminister im Bundestag geschlagen?
Sollmann: Der Minister stand sichtlich unter Hochspannung. Man sah eine sehr rigide Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle, gleichzeitig eine enorme körperliche Kraft, die ihn schier beben ließ. Der Blick war oft nach unten gerichtet, er appellierte damit an das Mitleid der Zuhörer, andererseits signalisierte sein Blick Angriffslust statt Reue. Zu Guttenberg präsentierte sich als Typ, der bei aller Energie nicht explodiert, sondern sich im Griff hat. Das wirkt faszinierend. Und in dem Moment setzt sich der Zuschauer nicht mehr sachlich mit seinen Argumenten auseinander.
tagesschau.de: Ist so ein Auftreten eingeübt? Ist das ein Trick, um von den Inhalten abzulenken?
Sollmann: Ein Teil ist gelernt. Er bringt aber etwas mit, was einen populistischen Politiker auszeichnet: einen Machtinstinkt, ein Gespür für Inszenierungen und Identifikationsmuster. Ganz wichtig dabei: Das hat nichts mit Glaubwürdigkeit zu tun.
tagesschau.de: Was sagt das "System Guttenberg" über unsere politische Kultur?
Sollmann: Die Politik muss dies genau analysieren, um Aufschlüsse über Wählerverhalten zu bekommen. Alle großen Parteien beklagen sich, dass die Wähler ihnen abhanden kommen. Sie müssen also auf die Mechanismen schauen, wie Identifizierung funktioniert. Ich bin sehr für politische Inhalte, aber die Politiker müssen die Menschen erreichen und eben auch emotional ansprechen. Weil das so wenig vorhanden ist in der Politik, gibt es die große Sehnsucht nach Idolen und Helden.
Die Fragen stellte Simone von Stosch, tagesschau.de