Interview

Interview zur Patientenverfügung "Für Außenstehende ist das manchmal schaurig"

Stand: 19.01.2009 15:28 Uhr

Der Bundestag diskutiert aktuell drei Gesetzentwürfe zur Patientenverfügung. Sie sollen festlegen, unter welchen Umständen lebenserhaltende Maßnahmen abgebrochen werden können. Wie schwer das in der Praxis sein kann, erzählt der Journalist Tilman Jens im Interview mit tagesschau.de. Sein Vater, der prominente Schriftsteller und Hochschulprofessor Walter Jens, leidet seit fünf Jahren an Demenz.

tagesschau.de: Wie geht es ihrem Vater?

Tilman Jens: Es geht im ganz gut. So fühlt er es zumindest. Der objektive Befund ist natürlich tief traurig. Er erkennt kaum einen mehr, mit seinem früheren Leben verbindet ihn nichts. Subjektiv aber hat er durchaus Momente der Freude. Etwa, wenn er mit seiner Betreuerin nachmittags auf einen Bauernhof fährt und dort eine ganz andere Welt erlebt.

tagesschau.de: Wie merken Sie, dass es sich wirklich freut? Hat er manchmal klare Momente?

Jens: Nein, klare Momente hat er nicht. Er realisiert aber auch nicht mehr seinen Absturz. Er sitzt auf diesem Bauernhof, lernt wieder ein bisschen lesen und spielt mit Tieren. Früher hat er, der Asthmatiker von Anbeginn der Kindheit, Tiere gehasst. Er führt ein anderes Dasein, es ist ein kindliches Dasein. Für Außenstehende ist das manchmal schaurig, doch er selber kann manchmal sogar wieder lachen.

tagesschau.de: Würde ihr Vater - wäre er bei klarem Verstand - seinen derzeitigen Zustand als "selbstbestimmtes Leben", wie er es einmal geschrieben hat, akzeptieren?

"Zur Person " "Tilman Jens"
Der Sohn von Walter Jens arbeitet als Journalist und Autor für das öffentlich-rechtliche Fernsehen. 2003 drehte er den Film „Tod auf Bestellung. Die letzte Reise des Frank Coiffier“. Eine Dokumentation über einen Todkranken auf seiner Fahrt in die Schweiz, um dort aktive Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. 2009 erscheint das neuste Buch von Tilman Jens: „Demenz – Abschied von meinem Vater“.

Jens: Aus der damaligen Perspektive mit Sicherheit nicht. Er war sich ganz sicher: wenn ich in so einen Zustand komme, will ich lieber sterben, will ich tot sein. Nur in dem Moment, wo die Situation da war, war es dann doch etwas anders. Es gibt da für mich ein einschneidendes Erlebnis. Er hat ja immer wieder vom Tod gesprochen, dass er sterben möchte und dass ihm ein Arzt dabei helfen soll. Zwei Tage nach Neujahr 2007 saß er, in einem seltenen Moment der Klarheit, mit meiner Mutter und mir im Wohnzimmer und sagte: "Ich muss jetzt mit euch reden. Jetzt ist es soweit. Ich will nicht mehr. Beredet mit dem Arzt, wie wir es machen können." Wir waren natürlich alle bestürzt und tief traurig. Ich dachte, jetzt ist es wirklich passiert. Nach fünf Minuten schaut er dann plötzlich auf den Tannenbaum und sagt: "Aber schön ist es doch!" Damit mit war jedes Mandat natürlich erloschen.

tagesschau.de: Was meinen Sie mit Mandat?

Jens: Ihm aktiv aus dem Leben zu helfen. Glücklicherweise standen wir dann ja nie vor dieser Entscheidung. Er hat keine physischen Schmerzen, das Schlimmste liegt hinter ihm. Es gibt also keinen Grund, dass er sterben muss. Das liegt aber natürlich auch daran, dass es meiner Familie möglich ist, eine intensive private Betreuung zu organisieren. Wenn das, so wie bei den meisten allermeisten Demenz-Patienten, nicht möglich wäre - dann ginge es ihm ganz, ganz schlecht.

tagesschau.de: Wenn es ihrem Vater jetzt aus seiner subjektiven Sicht gut geht, er eigentlich aber nie so leben wollte: Glauben Sie, dass sich ein letzter Wille auch verändern kann?

Jens: Das ist eine ganz schwierige Sache. Er hat ja nie rechtsverbindlich erklärt: "Ich will sterben." Er hat nie einen Arzt darum gebeten, ihn zu erlösen, sobald er ein bestimmtes Stadium erreicht hat. Er hat es allgemein für die Gesellschaft formuliert und gesagt, es müsse möglich sein, auch seinen Tod selbst zu bestimmen. Dieser Ansicht war er und wäre er auch sicher heute noch. Das teile ich auch.

tagesschau.de: Sie sprechen von aktiver Sterbehilfe?

Jens: Es muss möglich sein, bei unerträglichen Schmerzen, bei einer unerträglichen Situation einem Dasein ein Ende zu machen. Also, zu sterben und nicht gestorben zu werden. Aber die Situation meines Vaters ist eine andere.

"Zur Person " "Walter Jens"
Der Schriftsteller, Literaturhistoriker und Hochschullehrer wurde am im März 1923 in Hamburg geboren. Von 1950 an gehörte er zu legendären Schriftstellervereinigung "Gruppe 47". Der Durchbruch als Erzähler gelang ihm im selben Jahr mit dem Roman "Nein. Die Welt der Angeklagten". Von Mitte der 60er Jahre bis 1988 war Jens Inhaber des bundesweit ersten Lehrstuhls für Allgemeine Rhetorik in Tübingen. Während seines ganzen Lebens setzte er sich für einen politischen und moralischen Standpunkt ein. 1995 veröffentlichte er unter anderem zusammen mit dem Theologen Hans Küng das Buch "Menschenwürdig sterben", in dem die Autoren für eine "verantwortliche Sterbehilfe" plädieren. Seit 2004 leidet Walter Jens an Demenz.

tagesschau.de: Sie standen also nie vor dem Dilemma ihm das zu ermöglichen, wofür er eingetreten ist, bevor er krank wurde. Nämlich ein Leben zu beenden, "bevor als ein dem Gespött preisgegebenen Etwas zu sterben, das nur von fernher an mich erinnert"?

Jens: Nein.

tagesschau.de: Der Bundestag berät aktuell drei Gesetzentwürfe zum Thema Patientenverfügung. Zwei Entwürfe sprechen sich dafür aus den Patientenwillen verbindlich zu akzeptieren, ein dritter Entwurf räumt dem Lebensschutz Vorrang ein. Was halten Sie für richtig?

Jens: Das ist für mich keine Frage. Der Wille des Patienten ist das entscheidende Kriterium. Ohne wenn und aber.

tagesschau.de: Hat ihr Vater eine Patientenverfügung?

Jens: Ja, aber erst seit 2006. Damals hat er auf Drängen meiner Mutter eine Patientenverfügung unterschrieben. Die regelt aber nur die passive Strebehilfe. Das beispielsweise im Falle einer Lungenentzündung keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr ergriffen werden. An diese Verfügung würde sich unsere Familie selbstverständlich halten. Aber das spielt zurzeit keine Rolle. Seine Vital-Funktionen sind alle in Ordnung. Es geht nicht darum, einen Apparat abzuschalten oder ähnliches. Hier würde es nur darum gehen, ein Leben aktiv zu beenden. Und das kann ich bei meinem Vater auf keinen Fall. Wie hat er gesagt: aber schön ist es doch!

tagesschau.de: Wie hat die Erkrankung Ihres Vaters Ihre Einstellung zu diesem Thema verändert? 

Jens: Ich hätte mir nie vorstellen können, dass man auch im gegenwärtigen Zustand meines Vaters noch eine Existenz in menschlicher Würde leben kann. Und das, obwohl er seine Mitmenschen nicht mehr erkennt, er nur noch kleine Schritte mit dem Rollator machen kann und inkontinent ist. Es ist, als ob sich die Prioritäten einfach verschoben haben. War er früher der große Intelektuelle, kämpft er jetzt mit den ganz grundsätzlichen Herausforderungen des Alltags. Trotzdem macht er dabei einen glücklichen Eindruck - das hat meine Einstellung zu dem Thema "würdevolles Sterben" durchaus verändert. Ich möchte ihn nicht missen, meinen kreatürlichen Vater.

Das Interview führte Niels Nagel, tagesschau.de