Interview zu Stress im Beruf "Wir brauchen eine andere Führungskultur"
Woran liegt es, dass Stress im Beruf zunimmt - und wie geht man damit um? Darüber hat tagesschau.de mit dem Soziologen Voß gesprochen. Er sieht ein Hauptproblem in der Führungsstruktur. Aber auch die eigentlich schöne Entwicklung, dass Mitarbeiter heute mehr Verantwortung tragen, kann ein Problem sein.
tagesschau.de: Wie unterscheidet sich denn tatsächlich das Arbeitsleben heute von dem von vor zehn Jahren?
G. Günter Voß: Die Verdichtung von Arbeit bei gleichzeitig verringertem Personal und verkürzten Zeitabläufen ist eine konventionelle Weiterentwicklung, die es über Jahrzehnte immer gegeben hat. Neu ist aber die Erweiterung von Spielräumen: Jeder Einzelne bis in die untersten Hierarchien hat heute mehr Verantwortung. Das kann, wie soziologische Studien gezeigt haben, eine Falle werden.
Solche offenen Strukturen sind ja auf den ersten Blick etwas Gutes. Man steht dadurch aber unter massivem Zwang, sich die Arbeit selber zu organisieren, zu funktionieren. Auch das macht einen Teil des nun registrierten gestiegenen Drucks aus. Das kann zu Selbstausbeutung führen, weil Vorgesetzte oft nicht mehr sagen: "Das war gut, es reicht jetzt, mach Feierabend."
tagesschau.de: Warum ist es denn so anstrengend für Arbeitnehmer, Verantwortung zu übernehmen?
Voß: Verantwortung zu übernehmen ist nicht per se anstrengend, sondern es hängt davon ab, wie die Bedingungen sind. Wenn Verantwortungsübernahme damit verbunden ist, dass man mit Anforderungen überhäuft wird, ist es anstrengend. Oder wenn man nicht die notwendigen zeitlichen oder personellen Ressourcen hat, vernünftig zu arbeiten. Oder wenn man von den jeweiligen Vorgesetzten nicht angemessen gewürdigt wird. Viele Studien zeigen, dass oft die Wertschätzung ausbleibt.
"Vorgesetzte müssen ihre Mitarbeiter schützen"
tagesschau.de: Ist es realistisch, zu glauben, man könnte an der Struktur unseres gegenwärtigen Arbeitslebens etwas ändern?
Voß: Ich glaube nicht, dass dieser Trend zurückzuschrauben ist. Unsere Arbeitsbelastung wird kaum sinken. Es hängt also davon ab, wie das im Detail gestaltet wird. Angesichts der veränderten Anforderungen an Arbeitnehmer muss eine andere Führungskultur entstehen.
Vorgesetzte müssen lernen, den Druck, unter dem sie selbst ja auch stehen, nicht einfach weiterzugeben. Sie müssen lernen, die Bedingungen für ihre Mitarbeiter zu schaffen, damit sie die erhöhten Anforderungen auch erfüllen können. Sie haben die Aufgabe, ihre Untergebenen vor Überlastung zu schützen.
Ein Vorgesetzter muss heute eher ein Coach sein, ein Mentor, vielleicht auch ein Puffer der Mitarbeiter gegenüber Überlastungsdrohungen. Und ich beobachte oft, dass Vorgesetzte diese veränderte Aufgabe nicht wahr nehmen.
tagesschau.de: Wie könnte das konkret aussehen?
Voß: Nehmen wir an, ein Team muss am Montag sein Projekt dem Kunden vorstellen. In der Woche davor wird durchgearbeitet, die Mitarbeiter machen Überstunden, es wird am Wochenende gearbeitet. Dann sollte ein Vorgesetzter, wenn montags das Projekt abgeschlossen ist, seinen Mitarbeitern zwei Tage frei geben – oder zumindest das Arbeitsvolumen vorübergehend reduzieren. Ich versichere Ihnen: das finden Sie selten. Was in der Regel passiert ist, dass am Montag das nächste Projekt begonnen wird. Damit macht man die Leute auf Dauer aber kaputt.
Die Betriebe sind noch nicht fähig, für ihre Mitarbeiter zu sorgen – und den Mitarbeitern zu helfen, dass sie selbst für sich sorgen können. Sie fangen erst jetzt an, auf sogenannte "weiche" Faktoren, also psychische Belastung, Stress zu achten.
"Beschäftigte müssen auf sich selbst achten"
tagesschau.de: Wie stark sind die Arbeitnehmer gefragt, das einzufordern?
Voß: Ich finde das schwierig, denn die Arbeitnehmer haben ja kaum Handlungsmöglichkeiten, außer ihre Vorgesetzten darauf aufmerksam zu machen, wenn die Belastung zu groß ist. Das sollten sie allerdings tun. Wenn der Betrieb darauf aber nicht reagiert, haben sie wenige Mittel, eine Veränderung durchzusetzen.
Beschäftigte müssen deshalb lernen, auf sich selbst zu achten, auf ihre Belastungsgrenzen. In unserer sozialwissenschaftlichen Diskussion zu dem Thema ist der Ausdruck "Selbstsorge" entscheidend. Sie müssen lernen, zu erkennen wo eine Grenze erreicht ist, und das artikulieren. Das geht übrigens am besten gemeinsam mit den Kollegen. Um in unserem Beispiel zu bleiben: Die ganze Projektgruppe muss sagen, "Wir haben uns für das Projekt verausgabt, nun brauchen wir zwei Tage Ruhe".
tagesschau.de: Vermutlich schrecken viele davor zurück, diese Art von "Schwäche" zu zeigen.
Voß: Die Möglichkeiten der Mitarbeiter sind begrenzt, wenn der Betrieb nicht Vorkehrungen dafür trifft, dass es den Mitarbeitern leicht fällt. Aber durch die - nicht ohne Grund zunehmende - Burn-out-Diskussion ist zumindest bei manchen Betrieben die Botschaft angekommen, dass sie ihre Leute nicht weiter kaputt machen können. Das geht nicht. Also müssen sie lernen, dass sie, wenn sie gesunde Mitarbeiter haben wollen, selber Grenzen setzen müssen.
Die Betriebe stehen aber weiter massiv unter Druck. Sie bauen eher Personal ab als dass sie Personal einstellen - obwohl das ja eine Lösung des Stresses wäre: Die Arbeitsbelastung auf mehr Personal zu verteilen. Die Diskussion dazu nimmt aber zu, die Betriebe fangen an, zu lernen, dass sie ihre Leute nicht einfach wie Zitronen auspressen können. Sie merken es spätestens, wenn Burn-out nicht nur auf die unteren Ebenen beschränkt bleibt, sondern in den Führungsebenen oder bei den Experten ankommt.
"Ein Team, das sich zerfleischt, ist kontraproduktiv"
tagesschau.de: Es gibt Bestrebungen bei manchen Konzernen, dem Stress etwas entgegen zu setzen. Ob das ein E-Mail-Verbot nach Feierabend ist oder Massagesessel im Büro - bringt das etwas?
Voß: Eine positive Arbeitsumgebung zu schaffen ist sinnvoll. Aber viel wichtiger ist es, die Arbeitsstruktur und das Führungsverhalten zu verändern. Bei singulären Maßnahmen bin ich skeptisch.
Der soziale Umgang betrifft aber nicht nur die Vorgesetzten, sondern auch Teamleiter oder auch die Kollegen untereinander. Ein Team, das sich zerfleischt, ist kontraproduktiv. Trotzdem passiert das.
tagesschau.de: Es ist für Vorgesetzte natürlich auch bequem, wenn Mitarbeiter zur Selbstausbeutung bereit sind.
Voß: Das mag auf den ersten Blick bequem sein, es ist aber schlicht schlechte Führung, weil es die Mitarbeiter kaputt macht. Ein Vorgesetzter muss verstehen, dass er, wenn er seinen Bereich nachhaltig führen will, die Leute noch nächste Woche braucht.
Das Gespräch führte Anna-Mareike Krause, tagesschau.de