Kindesmissbrauch in Institutionen "Man kann sich das Ausmaß der Gewalt nicht vorstellen"
Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger berät heute mit Erzbischof Zollitsch über die Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche. Solche Taten finden oft in Institutionen statt, die autoritäre Strukturen aufweisen, betont Ursula Enders von der Beratungsstelle "Zartbitter". Das Ausmaß der Gewalt könne man sich nicht vorstellen.
tagesschau.de: Was macht den Umgang mit dem Thema sexueller Missbrauch von Kindern so schwierig?
Ursula Enders: Das Thema macht vielen Menschen Angst. Die meisten Menschen können sich das Ausmaß der Gewalt nicht vorstellen. Und wenn man es sich vorstellen kann, schiebt man es weg - aus Selbstschutz, weil man das Leid nicht ertragen kann.
tagesschau.de: Derzeit wird viel über die Kirchen gesprochen. Wo findet Missbrauch sonst statt?
Enders: In Sport- und Jugendverbänden beispielsweise, die häufigsten Meldungen haben wir aus staatlichen Schulen. Wir sind auch konfrontiert mit Missbrauch in Kindertagesstätten und in privaten Institutionen wie zum Beispiel in Musikschulen oder bei Jugendferienreisen - also überall, wo Kinder und Jugendliche sind.
Die Informationsstelle "Zartbitter" gegen sexuellen Missbrauch von Jungen und Mädchen wurde 1987 gegründet. Der Verein beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Missbrauch in Institutionen, berät Missbrauchsopfer und Einrichtungen, die von Missbrauch betroffen sind. Mitbegründerin Ursula Enders hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht. Anfang der 90er-Jahre erschien "Zart war ich - bitter war's" als erstes deutschsprachiges Handbuch gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen.
tagesschau.de: Wie reagieren Täter, wenn Missbrauchsfälle bekannt werden?
Enders: Häufig mit Leugnung. Werden dann einzelne Fakten benannt, geben sie soviel zu, wie bereits bekannt ist. Sie zeigen sich reuig, damit soll die Wahrnehmung der Umwelt vernebelt werden. Und durch Teilgeständnisse glauben viele Menschen, die Täter stehen zu ihren Taten - und sie wirken daher auf betroffene Kinder ein, es sei nicht so schlimm, er hat ja dazu gestanden.
tagesschau.de: In der Odenwaldschule gab es auch Missbrauch zwischen den Kindern.
Enders: Das ist kein Zeichen für eine besondere Grausamkeit der Kinder und Jugendlichen. Es ist vielmehr ein Hinweis darauf, dass der gesamte Alltag der Institution sexualisiert war. Die Opfer fanden einen Weg das erlebte Leid auszudrücken und haben die Handlungen re-inszeniert. Die Täter in Institutionen sagen oftmals zu den Kindern: Du hast es ja selbst getan. Das macht es den Opfern sehr schwer, darüber zu sprechen. Diese Dynamik hat eine besondere Bedeutung im Sinne eines Schweigegebotes.
tagesschau.de: Warum?
Enders: Zurzeit wird oft gefordert, es müsse bei einem Verdachtsfall sofort Strafanzeigen geben. Wenn wir in Fällen von sexuellen Missbrauch sofort Anzeige erstatten müssen, werden sich viele Opfer uns nicht mehr anvertrauen, weil sie Angst haben, selbst angezeigt zu werden.
tagesschau.de: Welche Strukturen begünstigen Missbrauch?
Enders: Viele Fälle finden in Institutionen statt, die sehr autoritäre Strukturen haben, dort hat das Team nur ein begrenztes Mitspracherecht und Täter brauchen nur bei der Leitung zu "schleimen" und können so Seilschaften bilden. Außerdem findet Missbrauch oft in verwahrlosten Systemen statt. Das geht oft einher mit Vernachlässigung von Kindern.
tagesschau.de: Was meinen Sie mit verwahrlost?
Enders: Das sind Institutionen, in denen König Faulheit regiert. Wenn im Team beispielsweise gesagt wird, es gäbe keine richtige Leitung. Und wenn die Räumlichkeiten sehr lieblos sind. Wenn Täter das sehen, haben sie eine gute Möglichkeit, Kinder zu missbrauchen, weil die anderen Kollegen sich nicht besonders engagieren. Und durch etwas mehr Engagement können sich Täter ohne großen Aufwand die Maske des besonders kinderlieben Mitarbeiters schaffen.
tagesschau.de: Wo werden Kinder am häufigsten missbraucht?
Enders: Der Anteil des sexuellen Missbrauchs in der Familie macht bei Mädchen etwa 30 Prozent aus. Bei Jungen ist der Anteil deutlich niedriger. Mädchen werden zu etwa 60 Prozent im sozialen Umfeld missbraucht: Nachbarn, Freunde der Familie oder Verwandte, Mitarbeiter aus Institutionen. Das ist der soziale Nahbereich, da die Personen dem Opfer vertraut sind. Bei Jungen liegt der Anteil der Fremdtäter etwas höher - etwas über zehn Prozent. Eine Tätergruppe wird in der aktuellen öffentlichen Debatte kaum benannt - und das sind Jugendliche. In unserer Beratungsstelle liegt der Anteil bei mehr als 30 Prozent.
tagesschau.de: Waren diese Täter auch Opfer von Missbrauch?
Enders: Die Ursachen sind sehr unterschiedlich. Es gibt sexuell übergriffige Mädchen und Jungen, die Zeugen von Gewalt waren oder gemobbt wurden - und nun über sexuelle Gewalt eine Machtposition in der Clique erlangen wollen. Und es gibt Mädchen und Jungen, die selbst sexuelle Gewalt erlebt haben. Aber wir beobachten keine klassische Laufbahn vom Opfer zum Täter. Viele betroffene Jungen werden Grenzen achtende und besonders sensible Männer.
tagesschau.de: Gibt es eine Zunahme von jugendlichen Tätern?
Enders: Ich arbeite seit 30 Jahren in diesem Bereich, und sexuelle Gewalt von Jugendlichen war schon immer Thema. Insgesamt können wir nicht von einer Zunahme ausgehen. Da aber Jungen und Mädchen schon im Kindergarten lernen, dass sexuelle Übergriffe nicht akzeptabel sind, können die Opfer heute häufiger darüber sprechen.
tagesschau.de: Was müssen Erwachsene tun?
Enders: Die vorrangige Aufgabe ist es, die Hinweise von Mädchen und Jungen zu erkennen. Hinweise gibt es immer, wir müssen sie nur verstehen. Die Erwachsenen müssen sich mit dem Thema beschäftigen und den Kindern zeigen, dass sie verstanden, ernstgenommen und geschützt werden.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de