Interview zur Lage in Kirgistan Hat Moskau seine Hand im Spiel?
Die politische und wirtschaftliche Situation Kirgistans ist schwierig, Korruption weit verbreitet und Presse sowie Opposition wurden unterdrückt. Die kirgisische Politikwissenschaftlerin Erketaeva beschreibt im tagesschau.de-Interview, dass hinter den aktuellen Unruhen auch geopolitische Interessen stecken könnten.
tagesschau.de: Wie ist die aktuelle Lage in der Hauptstadt Bischkek?
Dariha Erketaeva: Es sind keine Sicherheitskräfte zu sehen und es sind viele Leute auf den Straßen. Ich rechne mit massiven Krawallen. Mehr als 70 Menschen wurden bisher durch Schüsse getötet und mehr als 400 sind in Krankenhäusern. Die Verwundeten sagen, sie seien von Scharfschützen getroffen worden. Vor ein paar Stunden wurde das Haus von Innenminister Daniar Usenow geplündert. Niemand spricht im Moment von einer Revolution. In einigen kleinen Städten bei Bischkek gab es auch Plünderungen.
tagesschau.de: Was war der konkrete Auslöser für die Unruhen?
Erketaeva: Die Leute waren nicht nur über die hohen Preise für Wasser und Strom verärgert. Die Bakijew-Familie kontrollierte die Wirtschaft und die Politik. So verlief beispielsweise auch die Privatisierung von Infrastruktur-Unternehmen wie der Telefongesellschaft undurchsichtig. Zudem wurde die Medienfreiheit erheblich eingeschränkt, Journalisten wurden geschlagen. Am Morgen des 6. April wurden dann auch noch Oppositionsführer festgenommen. Aus Wut darüber gingen die Menschen in der Stadt Talas auf die Straße. Damit begannen dann die Unruhen.
"Armut und Korruption im ganzen Land"
tagesschau.de: Die politische Situation in Kirgistan ist seit Jahren instabil. Können Sie einige Gründe dafür nennen?
Erketaeva: Ein Punkt ist, dass die Wirtschaft von der Regierung kontrolliert wird und die Freiheit der Medien eingeschränkt ist. Ein anderer ist die große Armut und die ausufernde Korruption. Es fehlt in jeder Hinsicht an Transparenz. Zwar sind die Löhne in letzter Zeit gestiegen, aber das hat nicht die gestiegenen Lebenshaltungskosten ausgeglichen.
Russland als Drahtzieher der Unruhen?
tagesschau.de: Wie wird von den Menschen vor Ort die Rolle Russlands bei den Unruhen eingeschätzt?
Erketaeva: Die Menschen glauben, dass Russland den Ausbruch der Unruhen unterstützt hat. Im Fernsehen wurde berichtet, Ministerpräsident Wladimir Putin habe Oppositionsführerin Rosa Otunbajewa telefonisch seiner Unterstützung versichert. Ein Grund ist der Streit um die US-Militärbasis in Kirgistan. Russland hat der kirgisischen Regierung einen großen Kredit angeboten für das Versprechen, den Amerikanern die Erlaubnis für deren Militärbasis zu verweigern. Das hat die Bakijew-Regierung nicht getan, sondern einen höheren Kredit der USA angenommen. Zudem wollte Russland eine zweite Militärbasis eröffnen, die gestürzte Regierung zögerte aber mit einer Zusage. Und kürzlich hatte Moskau dann kritisiert, dass sich die kirgisische Führung nicht an demokratische Prinzipien halte.
tagesschau.de: Was sind denn die Versprechungen der Oppositionsführer? Und werden sie diese halten können?
Erketaeva: Sie haben versprochen, die Strompreise zu senken. Die Bevölkerung war in der letzten Zeit vor allem wütend über die erhöhten Preise für Strom, Wasser und Benzin. Die Frage ist, wie die neuen Machthaber das finanzieren wollen. Es wäre möglich, dass sie die Unternehmen des bisherigen Präsidenten Kurmanbek Bakijews verstaatlichen, aber darüber spricht im Moment niemand. An der schlechten wirtschaftlichen Lage Kirgistans werden sie auf jeden Fall auch nicht so schnell etwas ändern können.
tagesschau.de: Hat die Opposition die Macht über das ganze Land?
Erketaeva: Ja, die Übergangsregierung hat die Verantwortung übernommen. Sie erklärte, dass alle Behörden ihre Arbeit fortsetzen sollen, bis die Übergangsregierung weitere Entscheidungen trifft. Das trifft auch für die von der Familie des Präsidenten kontrollierten Unternehmen zu. Armee und Polizei wurden der Kontrolle eines der Opposition nahe stehenden Generals unterstellt. Zudem unterstützt die Bevölkerung die Übergangsregierung.
Das Interview führte Silvia Stöber für tagesschau.de per E-Mail