Koalitionsbildung Gefahren einer kleinen Opposition
Die Signale für eine Große Koalition mehren sich. Doch diese wäre so übermächtig, dass die Opposition wichtige Kontrollmittel nicht mehr wahrnehmen könnte. tagesschau.de erklärt, welche Probleme daraus entstehen und wie sie gelöst werden könnten.
Die Signale für eine Große Koalition mehren sich. Doch die wäre so übermächtig, dass sie die verbleibende kleine Opposition fast erdrücken würde. Wenn CDU/CSU und SPD koalieren, würde die Opposition aus Linkspartei und Grünen nur noch 127 von 631 Abgeordneten stellen - etwa ein Fünftel. Weil für viele Druck- und Kontrollmittel aber mindestens ein Viertel der Abgeordneten zustimmen muss, könnte die Opposition ihre Kontrollfunktion künftig nicht mehr richtig wahrnehmen. Abgeordnete von Linkspartei und Grünen, aber auch aus dem Regierungslager melden deshalb Bedenken an. tagesschau.de erklärt, welche Probleme entstehen und wie sie gelöst werden könnten.
Welche Kontrollmittel könnte die Opposition künftig nicht mehr nutzen?
Die Opposition könnte gegen den Willen der Regierungskoalition keinen Untersuchungsausschuss mehr einberufen. Sie könnte auch keine sogenannten Normenkontrollklagen mehr anstrengen, also veranlassen, dass Gesetze vom Bundesverfassungsgericht geprüft werden sollen. Genauso verhält es sich mit den sogenannten Subsidiaritätsklagen, also wenn EU-Gesetze vom Europäischen Gerichtshof geprüft werden sollen. In allen Fällen müsste mindestens ein Viertel der Abgeordneten dafür stimmen - eine Opposition aus Linkspartei und Grünen hätte aber nur ein Fünftel. Um eine Sondersitzung des Bundestages einzuberufen bräuchte die Opposition sogar ein Drittel der Stimmen.
Welche politischen Instrumente bleiben der Opposition dann noch?
Der Opposition bleiben im Wesentlichen all die Instrumente, die als Fraktionsrechte in der Geschäftsordnung des Bundestages festgehalten sind. Also Rechte, die jede Fraktion oder einzelne Abgeordnete haben. So kann die Opposition beispielsweise Vorlagen einbringen, Kleine und Große Anfragen stellen und Aktuelle Stunden einberufen.
Was bedeutet eine solch kleine Opposition für die Demokratie?
Da es eine wesentliche Aufgabe des Parlaments ist, die Regierungstätigkeit zu kontrollieren, würde die Parlamentarische Demokratie bei einer sehr kleinen Opposition "eminent geschwächt", sagt der Ex-Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier. Das sei vor allem dann eine Gefahr, wenn Große Koalitionen keine Ausnahmen, sondern eine Dauerlösung würden. Die Regierungsparteien könnten über den Kopf der Opposition hinweg ja auch Grundgesetzänderungen durchsetzen. Die dafür nötige Zwei-Drittel-Mehrheit hätten sie.
Auch der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim zeigt sich besorgt: "Die parlamentarische Demokratie basiert auf einer ständigen antagonistischen Auseinandersetzung zwischen der Regierung und ihren Fraktionen einerseits und den Oppositionsfraktionen andererseits." Wenn die Opposition sehr klein sei, sei dieses Entgegenwirken geschwächt.
Auch aus der Politik hagelt es Bedenken: Linksfraktionschef Gregor Gysi beklagte in einem Brief an Bundestagspräsident Lammert eine Schwächung des parlamentarischen Systems. Der Rechtsexperte Dieter Wiefelspütz von der SPD sprach von der Gefahr, dass die "Demokratie ersticken" könnte. Der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Thomas Strobl meldete ebenfalls staatspolitische Bedenken an und bezeichnete eine künftige Große Koalition als "Elefant im Plenarsaal".
Welche Lösungen schlägt die Politik vor?
Um einer künftigen Mini-Opposition dennoch wichtige Minderheitsrechte zu ermöglichen, sind jetzt verschiedene rechtliche und politische Vorschläge in der Diskussion. Gysi fordert, der Opposition bestimmte Rechte auch ohne ein Quorum von 25 Prozent zuzubilligen. Die neue Grünen-Parlamentsgeschäftsführerin Britta Haßelmann sprach sich diesbezüglich für eine Selbstverpflichtung des Bundestages aus. Abgeordnete der Linkspartei fordern gar eine Änderung des Grundgesetzes.
Welche Lösungen sind politisch und rechtlich denkbar?
Der Verfassungsrechtler Hans-Peter Schneider rät von einer Grundgesetzänderung dringend ab, da die Probleme sich auch auf andere Weise lösen ließen. In Art. 44 Abs. 1 GG heißt es: "Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen." Da der Bundestag dieses Recht auch ohne ein Quorum von 25 Prozent der Abgeordnetenstimmen hat, könnte man laut Schneider eine Verabredung mit der Regierungskoalition treffen: "Immer wenn nur eine oder beide Oppositionsfraktionen einen Untersuchungsausschuss beantragen, könnten sich alle anderen Abgeordneten der Stimme enthalten." Ein solches Gentlemen's Agreement müsse natürlich verbindlich geregelt werden, sei es durch einen Beschluss des Ältestenrates oder durch einen Zusatz in der Geschäftsordnung des Bundestages.
Gibt es Beispiele für solche Gentlemen's Agreements?
Ja, es gibt in der Politik mündliche Verabredungen, die nirgends festgeschrieben sind, an die sich aber dennoch jeder hält. Dazu gehört das sogenannte Pairing, eine parlamentarische Vereinbarung zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien. Sie sieht vor, dass bei Abstimmungen für jeden kranken oder dringend verhinderten Abgeordneten der Regierungsseite ein Abgeordneter der Opposition der Abstimmung fern bleibt. So sollen bei knappen Mehrheitsverhältnissen die grundsätzlichen Kräfteverhältnisse von Regierung und Opposition gewahrt bleiben. Bei der knappen Regierungsmehrheit im niedersächsischen Parlament gilt diese Vereinbarung beispielsweise.
Welche Lösungen gibt es bei den anderen Minderheitsrechten?
Im Fall einer Normenkontrollklage ist die Sachlage komplizierter. In Art. 93 Abs. 1, Satz 2 heißt es, diese sei "auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages" möglich. In diesem Fall könne der Bundestag nicht einfach sagen, wir lassen den Antrag auch ohne ein Quorum von 25 Prozent passieren. Hier müsse man den Weg über die Landesregierungen gehen, meint Verfassungsrechtler Schneider. Da jede Landesregierung das Recht habe, eine solche Klage anzustrengen, könnten Linkspartei und Grüne Verabredungen mit den Koalitionspartnern ihrer Landesregierungen treffen: "Die Linkspartei könnte beispielsweise in ihren Koalitionsvertrag der rot-roten Regierung in Brandenburg aufnehmen, dass der Koalitionspartner SPD in der brandenburgischen Regierung jede Normenkontrollklage der Linksfraktion im Bundestag mitträgt." Gleiches könnten die Grünen in ihren Landesregierungen machen.
Wenn eine künftige Opposition aus Linkspartei und Grünen eine Sondersitzung des Bundestages einberufen möchte, wäre das über den Bundestagspräsidenten möglich. Dieser ist nach Art. 39 Abs. 3 GG jederzeit dazu berechtigt. Verpflichtet ist er jedoch nur dann, wenn "ein Drittel der Mitglieder, der Bundespräsident oder der Bundeskanzler" es verlangen. Per Beschluss des Ältestenrates könnte auch hier eine verbindliche Verabredung mit dem Bundestagspräsidenten getroffen werden, dass er bereits auf Antrag einer Fraktion eine Sondersitzung einberuft.
Die Möglichkeit der Subsidiaritätsklage ist hingegen nicht im Grundgesetz, sondern in §12 des Integrationsverantwortungsgesetzes geregelt. Das hier vorgeschriebene Quorum von 25 Prozent der Mitglieder des Bundestags müsste durch eine Gesetzesänderung abgesenkt werden.
Würde eine Abschaffung der Fünf-Prozent-Hürde solche Probleme künftig verhindern?
Wären FDP oder die AfD nicht an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, wäre die Regierungsbildung jetzt wesentlich leichter. Die Große Koalition würde dann nicht als einziger Ausweg für eine stabile Regierung gehandelt. Die Opposition bliebe handlungsfähig. Damit steht das gängige Argument, dass die Fünf-Prozent-Hürde für stabile Regierungsverhältnisse sorge, weil sie einer Zersplitterung des Parlaments entgegenwirke, zumindest in Frage.
Vor allem auch, weil mehr als 15 Prozent der Wählerstimmen wegen der Fünf-Prozent-Hürde unter den Tisch gefallen sind, denken Rechtswissenschaftler und Politologen derzeit laut über Alternativen nach. So schlägt Staatsrechtler von Arnim vor, allen Wählern eine weitere Zweitstimme quasi in Reserve zu geben - für den Fall, dass seine erste Wahl bei der Stimmabgabe an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Hans-Peter Schneider hingegen fordert eine flexible Sperrklausel für den Einzug ins Parlament. Diese müsse sich daran orientieren, wie viele der abgegebenen Zweitstimmen wegen einer Sperrklausel unter den Tisch fallen würden. Die Sperrklausel müsse so weit abgesenkt werden, dass die Zahl der hinfälligen Zweitstimmen aller Parteien zusammen fünf Prozent nicht übersteige.