Debatte über "Letzte Generation" Ex-Verfassungsrichter Voßkuhle sieht keine "extremen Ansätze"
Der frühere Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle hält die Aktionen der "Letzten Generation" für "harmlose Sandkastenspiele". In einem offenen Brief an Kanzler Scholz schrieb die Gruppe, sie wünsche sich, "dass es unseren Protest nicht mehr braucht".
Der frühere Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle sieht bei den Klimaaktivisten, die sich auf Straßen festkleben, im historischen Vergleich keine extremen Ansätze. Verglichen mit Aktionen der Anti-Atom-Bewegung oder der Hausbesetzerszene "veranstalten die Straßenkleber heute harmlose Sandkastenspiele", sagte der Jurist und Hochschullehrer der "Rheinischen Post".
Die aktuellen Zeiten seien nicht besonders ideologisch geprägt, sagte Voßkuhle. Es gebe eher eine gewisse Orientierungslosigkeit. "Im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung ist alles unübersichtlicher, komplexer und schneller geworden", erklärte er. "Man muss lauter werden, um sich in dem damit verbundenen Klangbild durchsetzen zu können." Voßkuhle war von 2010 bis 2020 Präsident des Bundesverfassungsgerichts.
Umstrittenes Vorgehen der Justiz
Am Mittwoch waren im Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft München und des Bayerischen Landeskriminalamts in sieben Bundesländern Wohnungen und Geschäftsräume von Aktivisten der "Letzten Generation" durchsucht worden. Der Klimaschutzgruppe, die mit Aktionen wie der Blockade von Straßen für mehr Klimaschutz protestiert, wird die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Das Vorgehen der Justiz ist umstritten.
Die Frage, ob die "Letzte Generation" eine kriminelle Vereinigung ist, ist nach Auskunft des Rechtswissenschaftlers Tobias Singelnstein ungeklärt. Aktivistinnen und Aktivisten der "Letzten Generation" übten einerseits legalen Protest aus, sagte der Professor der Frankfurter Goethe-Universität. Sie seien Teil einer sozialen Bewegung, die sich am politischen Meinungsbildungsprozess beteilige. "Andererseits haben Teile dieser Bewegung auch Aktionsformen gewählt, die rechtliche Grenzen überschreiten", sagte der Jurist. Dazu gehörten Sachbeschädigung oder Nötigung.
Singelnstein: "Gesellschaftlicher Aushandlungsprozess"
Ob friedliche Straßenblockaden eine strafbare Nötigung seien, werde ebenfalls in der Rechtswissenschaft diskutiert und müsse immer im Einzelfall geprüft werden. "Was wir gerade erleben, ist ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess darüber, wie mit solchen Klimaprotesten umgegangen werden soll", erklärte Singelnstein.
Teile der Politik positionierten sich mit drastischen Worten gegen die "Letzte Generation". Der zunehmend schärfere Einsatz des Strafrechts und die Kriminalisierung des Protests seien weitere Schritte in diese Richtung. Insofern könne durchaus von einem politisch motivierten Einsatz des Strafrechts gesprochen werden, erklärte Singelnstein.
Offener Brief an Kanzler Scholz
Nach den Razzien hat die Klimaschutzgruppe von Andrang auf Sitzblockadetrainings berichtet. "Unzählige Menschen haben sich für nächste Woche zu Sitzblockade-Trainings angemeldet", hieß es in einem am Samstag veröffentlichten und an Bundeskanzler Olaf Scholz gerichteten offenen Brief der Aktivisten. "Wir wünschen uns, dass es unseren Protest nicht mehr braucht. Dass Ihre Regierung verfassungsgemäß handelt. Dass all die neuen Menschen, die gerade zur Letzten Generation strömen, es nicht mehr als notwendig erachten, Sitzblockaden zu machen", schreibt die Letzte Generation weiter.
Die Gruppe hatte am Freitag mitgeteilt, vorerst auf Demonstrationen anstatt auf Straßenblockaden zu setzen. Für Mittwoch rief sie zur Teilnahme an bundesweiten Protestmärschen auf. Sie kündigte zugleich ein Ende ihres Protests an, sobald die Bundesregierung einen sogenannten Gesellschaftsrat einberuft, der das Ende der Nutzung fossiler Brennstoffe in Deutschland bis 2030 planen soll - eine Kernforderung der Gruppe.
Polizei und Staatsanwaltschaft waren am Mittwoch mit einer Razzia gegen die Letzte Generation vorgegangen. Rund 170 Beamte durchsuchten 15 Wohnungen und Geschäftsräume in sieben Bundesländern, wie die Generalstaatsanwaltschaft München und das Bayerische Landeskriminalamt mitteilten. Der Tatvorwurf lautet auf Bildung beziehungsweise Unterstützung einer kriminellen Vereinigung. Die Aktivisten bestreiten, kriminell zu sein, obwohl mehrere bereits wegen Straftaten verurteilt wurden, teils sogar zu Haftstrafen. Die Razzia wurde von vielen Seiten als übertrieben kritisiert. Die Initiative beklagte, ihre Mitglieder fühlten sich wie "Schwerverbrecher behandelt".