Akute Krise im Gesundheitswesen "Krankenstand ist aktuell extrem hoch"
Sehr viel erkranktes Personal, zu wenig Medikamente, kaum freie Intensivbetten: Das deutsche Gesundheitswesen kämpft zurzeit gegen Grippe, Corona und RS-Viren. Fachleute fordern umgehend weniger Bürokratie - und mittelfristig mehr Einwanderung.
Hohe Personalausfälle, viele Patienten mit Atemwegserkrankungen sowie Lieferengpässe bei Medikamenten machen den Kliniken zurzeit zu schaffen. "Wir dürften beim Personal mittlerweile bei einem Ausfall von neun bis zehn Prozent liegen, das heißt, fast jeder zehnte Mitarbeiter ist erkrankt", sagte der Vorstandschef der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, der Nachrichtenagentur dpa.
Das seien 30 bis 40 Prozent mehr Ausfälle als in dieser Jahreszeit üblich. Viele Beschäftigte seien von den Infektionskrankheiten betroffen, die auch sonst für hohe Patientenzahlen sorgten. Derzeit verursachen neben Corona auch die Grippe sowie bei Kindern RS-Viren landesweit viele Erkrankungen.
Besonders Kinderkliniken betroffen
Die Personallage sei ohnehin dünn, sagte Gaß. "Das führt dazu, dass zurzeit in einer ganzen Reihe von Krankenhäusern Betten gesperrt sind oder ganze Stationen abgemeldet werden müssen. Wir dürfen nicht behandeln, wenn wir Personalgrenzen unterschreiten."
Die Kinderkliniken seien davon besonders betroffen, weil dort viele Pflegekräfte mit Zusatzausbildung arbeiteten. "Es ist nicht so einfach möglich, Mitarbeiter von einer Erwachsenenstation auf der Kinderstation einzusetzen." In dieser Situation gebe es keine einfache Lösung.
"Nur noch das Notwendigste dokumentieren"
"Eine Stellschraube wäre die Entlastung von Bürokratie und den Dokumentationspflichten. Da sollte der Gesundheitsminister noch mal ran und den Krankenhäusern Spielraum einräumen", sagte Gaß. "Man sollte jetzt konsequent sagen, dass die Pflegekräfte nur noch das Notwendigste dokumentieren müssen, was für die Patientenbehandlung wichtig ist und sich ansonsten auf die Pflege konzentrieren können."
Der DKG-Chef sprach sich auch dafür aus, die Personaluntergrenzen auszusetzen. Man solle in einer solchen Situation den Krankenhäusern die Entscheidung überlassen, vielleicht auch mit etwas weniger Personal eine gute Versorgung organisieren zu können.
Flohmärkte für Medikamente in der Nachbarschaft?
Kliniken und Arztpraxen klagen zudem über Engpässe bei einer Reihe von Medikamenten. Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, rief die Bevölkerung deshalb dazu auf, sich gegenseitig mit der Hausapotheke zu helfen. "Jetzt hilft nur Solidarität. Wer gesund ist, muss vorrätige Arznei an Kranke abgeben. Wir brauchen so was wie Flohmärkte für Medikamente in der Nachbarschaft", sagte er der Zeitung "Tagesspiegel".
Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) klagte über unnötige Bürokratie auf Seiten der Krankenkassen. "Ein individuell hergestellter Fiebersaft in der Apotheke kostet natürlich mehr, und die Krankenkassen erstatten das nicht, wenn es nicht auf dem Rezept verordnet steht", sagte ABDA-Vorstandsmitglied Gabriele Overwiening der dpa. "Der Arzt kann aber nicht wissen, dass es in der Apotheke keinen Fiebersaft geben wird". Es wäre ihrer Ansicht nach sinnvoll, dass Apotheken entscheiden könnten, wann sie das Mittel selbst herstellen.
Viele Regionen ohne freie Intensivbetten
Bereits gestern hatte der Intensivmediziner Christian Karagiannidis darauf hingewiesen, dass der Krankenstand in der Bevölkerung historische Dimensionen erreicht hat. "Der Krankenstand in der Gesellschaft ist aktuell extrem hoch, so etwas habe ich noch nicht erlebt", hatte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin der Zeitung "Rheinischen Post" gesagt. In vielen Regionen gebe es so gut wie keine freien Intensivbetten mehr.
Karagiannidis forderte grundlegende Reformen im deutschen Gesundheitssystem. In allen Berufsgruppen gingen pro Jahr rund 500.000 Arbeitnehmer in Rente, sagte Karagiannidiss dem Blatt "Wochentaz". Millionen Stellen würden nicht nachbesetzt. "Diese Arbeitskräfte fehlen als Pflegekräfte, sie fehlen als Beitragszahler - das wird noch völlig unterschätzt. Und sie werden selbst zu Pflegefällen. Das ist ein Teufelskreis, aus dem wir erst in ungefähr zehn Jahren wieder rauskommen."
Karagiannidis fordert "Migration im großen Stil"
Allein Arbeitsplätze in der Pflege attraktiver zu machen genüge angesichts der demografischen Entwicklung nicht zur Schließung von Personallücken. "Das Einzige, was die Zahl der Arbeitskräfte erhöhen würde, wäre strukturierte Migration im großen Stil."