Krise der Sozialdemokratie "Die SPD implodiert"
Trotz guter GroKo-Verhandlungen kommt die SPD nicht zur Ruhe. Personalquerelen und falsche programmatische Akzente führten zu einer Implosion der Partei, meint der niederländische Politologe René Cuperus.
tagesschau.de: Die SPD befindet sich seit Monaten im Tief. Nicht nur die Umfragewerte liegen im Keller. Jetzt zerfleischen sie sich auch noch mit Personaldebatten. Was ist da los?
René Cuperus: Die SPD scheint im Moment mehr Wert auf innerparteiliche Kämpfe zu legen als darauf, dass die Partei sich stabilisiert. Sie kann sich diese Personaldebatten aber überhaupt nicht leisten. Die Partei ist jetzt führungslos und das in einer Situation, in der sie eigentlich eine starke Führung braucht, die bei der Basis für den Koalitionsvertrag und für ein Ja im Mitgliedervotum wirbt. Ich halte das für sehr gefährlich und das Verhalten für unseriös, wenn man bedenkt, wie wichtig diese Regierungsbildung für Deutschland und auch für Europa ist. Dieser innerparteiliche Kampf befördert die Implosion der SPD, die gerade stattfindet.
tagesschau.de: Ist es nicht gerade in der jetzigen Situation sinnvoll, dass Andrea Nahles sofort - zumindest kommissarisch - das Amt der Parteivorsitzenden übernimmt?
Cuperus: Ich glaube schon, dass es Andrea Nahles jetzt braucht, um dieses Führungsvakuum zu überbrücken. Die Frage ist, ob es gelingt, denn sie ist durch die Personalquerelen ebenfalls angeschlagen. Ich verstehe aber auch die SPD-Basis und finde die Forderung nach einer Urwahl richtig. In der jetzigen Situation halte ich dieses Verhalten aber für sehr naiv. Sie verstehen nicht die gefährliche Lage der SPD - und des Landes vor dem Mitgliedervotum. Denn die Implosion der SPD bedeutet ein Erstarken der AfD.
Europäischer Niedergang der Sozialdemokratie
tagesschau.de: Seit Jahren verharrt die SPD um die 20 Prozent - mit kurzer Ausnahme nach der Schulz-Ernennung. Inzwischen ist sie sogar auf 18 Prozent gesunken. Was läuft da schief?
Cuperus: Was der SPD gerade passiert, ist bereits in ganz Europa passiert, Deutschland ist einfach nur etwas später dran. Zu beobachten ist ein starkes Auseinandertreiben und eine Fragmentarisierung der Gesellschaft. Zudem geht es um den Verlust von Kontrolle, Vertrauen in die Politik und Identität in einer globalisierten Welt. Und die Welle des Populismus, die zuvor schon Holland, Österreich, Frankreich, Belgien, Dänemark und Schweden erfasst hat, ist jetzt auch nach Deutschland gekommen. Man dachte lange Zeit, die deutsche Gesellschaft sei immun dagegen wegen der deutschen Vergangenheit - aber das ist nicht der Fall. Und bei dieser Entwicklung verlieren die Sozialdemokratie und die Nachkriegs-Volksparteien im Allgemeinen in ganz Europa an Boden.
tagesschau.de: Welche Fehler hat die SPD dabei gemacht?
Cuperus: Die SPD macht vor allem zwei Dinge falsch: Sie hat einen Mangel an Selbstvertrauen und sie ist komplett gespalten. Und beides mögen die Wähler nicht. Zu beobachten ist eine zerrissene Partei, die sich weder zutraut in die Regierung noch in die Opposition zu gehen. Hinzu kommt noch immer das riesige programmatische Glaubwürdigkeitsproblem seit Gerhard Schröder und der Agenda 2010. Da ist eine offene Wunde geblieben: die soziale Gerechtigkeitslücke.
"Macron-Moment der deutschen Politik"
tagesschau.de: Während der Regierungsbildung hatte man das Gefühl, die SPD kann es gar nicht richtig machen. Geht sie wieder in eine Große Koalition, verliert sie. Stiehlt sie sich aus der Verantwortung, verliert sie auch. Was hätten Sie geraten?
Cuperus: Es gibt derzeit keine Alternative zum Regieren. Deutschland braucht eine stabile Regierung, vor allem wegen seiner internationalen und europäischen Verantwortung. Diese Große Koalition von Union und SPD - die fast letzten noch mächtigen Volksparteien Europas - könnte die letzte Chance sein, um den Mainstream offensiv gegen das Gespenst des Rechtspopulismus zu verteidigen. Die deutschen Politiker sollten diese Verantwortung ernst nehmen, und nicht diesen 'Macron-Moment der deutschen Politik' verpassen.
Die Gefahr der SPD ist allerdings, dass sie durch eine erneute GroKo zwar das Land rettet, aber die Partei zerstört. Wobei sie während der GroKo-Verhandlungen auch große Fehler gemacht hat: Warum haben sie als zwei ihrer Hauptthemen die Vereinten Nationen von Europa und den Familiennachzug gewählt? Das sind nicht die Themen, mit denen man das Vertrauen der Stammwähler zurückgewinnt.
tagesschau.de: Welche Themen hätte die SPD nach vorne stellen sollen?
Cuperus: Die Einkommens- und Bildungs-Spaltung der Gesellschaft zum Beispiel. Das Thema Soziale Gerechtigkeit war zwar gut gewählt, aber die Partei hat es nicht gut rübergebracht: Man hat eine etwas technokratische Liste von 60 Punkten zusammengestellt, anstatt einige Symbolprojekte herauszugreifen. Die Bürgerversicherung wäre zwar ein solches Projekt gewesen, aber das hat man nicht durchgesetzt. Stattdessen hat man sich internationale Themen ausgesucht. Da geht es zwar auch um soziale Gerechtigkeit, aber nicht für die Stammwähler, sondern für Flüchtlinge oder für andere europäische Länder. Das ist eine sehr riskante Wahl in einer Situation, in der es einen populistischen Zeitgeist gibt.
"Anwalt der kleinen Leute bleiben"
tagesschau.de: Die Rechtspopulisten sind für den Niedergang der Sozialdemokratie verantwortlich?
Cuperus: Wo man hinschaut, wird Europa überfallen von Rechtspopulisten. Da muss die Sozialdemokratie der Anwalt der kleinen Leute sein und bleiben. Das ist bereits in Frankreich und den Niederlanden schief gelaufen. Und das steht jetzt auch in Deutschland auf dem Spiel: Die AfD ist dabei, der SPD diesen Rang abzulaufen. So wie es eine historische Pflicht der Union ist, keine Kraft rechts von sich zuzulassen, ist es ebenso die historische Pflicht der SPD, keine Partei zuzulassen, die die Interessen der kleinen Leute scheinbar besser vertritt als sie selbst.
tagesschau.de: Wie könnte das gelingen?
Cuperus: Was die Menschen wirklich wollen, ist gar nicht unbedingt soziale Gerechtigkeit, sondern soziale Sicherheit. So wie die Union traditionell der Garant für innere Sicherheit war, muss die SPD der Garant für soziale Sicherheit sein. Wir sehen, dass auch die Union an Zustimmung verliert, weil sie genau diesen Markenkern mit ihrer Flüchtlingspolitik aufs Spiel gesetzt hat. Und die SPD hat analog dazu das Problem, der unteren Mittelschicht eine soziale Sicherheit zu garantieren in einer globalisierten und digitalisierten Welt, in der alles immer unübersichtlicher wird.
Die niederländischen Sozialdemokraten unter Lodewijk Asscher stürzten bei der Parlamentswahl 2017 auf knapp sechs Prozent der Stimmen.
tagesschau.de: Ihre eigene Partei, die niederländische Arbeiterpartei ist 2017 nach einer Regierungsbeteiligung als Juniorpartner einer Großen Koalition von 26 auf sechs Prozent abgestürzt. Sehen Sie Parallelen zu Deutschland?
Cuperus: Meine Partei wurde bei der letzten Wahl fast zerstört. Das war zwar ebenfalls die Konsequenz einer Großen Koalition, die den Unterschied zwischen rechts und links in der Politik verblassen lässt und damit Populismus an den Flanken produziert. Aber hinzu kam auch noch eine harte Austeritätspolitik. Es war quasi eine GroKo kombiniert mit Hartz IV. Wir haben in den Augen der Wähler also nicht nur mit dem politischen Gegner kollaboriert, sondern auch noch eine Politik gemacht, die sie nicht als sozialdemokratisch wahrnahmen. Das wurde brutal abgestraft.
In Deutschland haben wir die gegenteilige Situation: Deutschland geht es wirtschaftlich so gut wie nie zuvor, die Steuereinnahmen sprudeln, die neue GroKo plant Geldgeschenke und Steuererleichterungen und dennoch ist sie so unpopulär. Es ist erstaunlich, dass man mit so viel Geld nicht mehr Vertrauen und Unterstützung und politische Glaubwürdigkeit erkaufen kann.
"Aufstand im Paradies"
tagesschau.de: Wie erklären Sie sich das?
Cuperus: Ich sehe das analog zum Erstarken der Rechtspopulisten. Die sind nicht nur in Osteuropa, sondern ausgerechnet auch in den reichsten, glücklichsten, egalitärsten Gesellschaften der Welt besonders groß: in der Schweiz, in Schweden, in Dänemark, in Österreich, in Finnland, in Holland, in Flandern. Ich nenne das "Aufstand im Paradies". Es ist weniger ein sozio-ökonomisches, sondern ein kulturelles und psychologisches Phänomen. Man lebt gerade im Paradies und sieht dieses Paradies bedroht von der Globalisierung, der Migration, der Digitalisierung, der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Die Eliten, so die Annahme, schützen dieses Paradies nicht genügend und am meisten fühlt man sich verraten von den Sozialdemokraten, die keine soziale Sicherheit und kulturelle Kontinuität mehr gewährleisten.
tagesschau.de: Und nun?
Cuperus: Die SPD muss Experimente wagen, nicht nur programmatisch, sondern auch personell. Sie muss zeigen, dass sie eine moderne, dynamische Volkspartei sein will, indem sie mehr neue Leute nach vorne stellt, vor allem junge Leute, Ostdeutsche und Migranten. Die Botschaft muss sein: Wir sind und bleiben die Partei alter Arbeiter und Gewerkschaftsleute, aber wir sind auch die Partei der Zukunft. Nur so kann man selbst in einer neuen Großen Koalition einen symbolischen Neustart machen.
Man spürt den Ruf in Deutschland nach einem Generationswechsel, nach einem neuen Politikstil. Sehen Sie nach Frankreich zu Macron oder nach Österreich zu Sebastian Kurz. Das sind junge, charismatische Politiker. Die braucht man in diesen Zeiten von Verunsicherung. Deutschland hat altmodische Politiker in der ersten Reihe. Die SPD hätte versuchen sollen, das zu ändern. Ministerposten zur Machtsicherung ohne ein identitätsstiftendes Programm und Überzeugungskraft sind nicht genug.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.