Interview

Leverkusen bringt Flüchtlinge in Privatwohnungen unter "Gut für Flüchtlinge und für die Stadt"

Stand: 20.06.2014 17:35 Uhr

In Leverkusen werden Flüchtlinge nicht mehr in Sammelunterkünften, sondern in Privatwohnungen untergebracht. Das sei menschenwürdiger und auch noch kostengünstiger für die Stadt, sagt Rita Schillings vom Flüchtlingsrat im Gespräch mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Seit rund zwölf Jahren praktiziert die Stadt Leverkusen das so genannte Leverkusener Modell: Flüchtlinge werden, statt in Sammelunterkünften, in Privatwohnungen untergebracht. Wie kam es dazu?

Rita Schillings: Die Unterbringung von Flüchtlingen war seit den 1990er Jahren in Leverkusen - wie in fast allen Städten in Deutschland - katastrophal. Es wurden Container aufgestellt, in denen viele Menschen auf engstem Raum zusammenleben mussten, es gab keine Privatsphäre, keine Rückzugsmöglichkeiten, es gab ständig Probleme mit den Sanitäranlagen, denn wenn sechs Familien sich eine Toilette teilen müssen, hört auch der Gutwilligste irgendwann auf zu putzen. Zudem waren die Sammelunterkünfte in marodem Zustand.

Zur Person
Rita Schillings ist Sozialarbeiterin und seit 1990 in der Flüchtlingsarbeit aktiv, seit 2001 ist sie Geschäftsführerin beim Flüchtlingsrat Leverkusen. Sie hat das "Leverkusener Modell" im Jahr 2000 gemeinsam mit der Caritas und der Stadt Leverkusen entwickelt.

Damals wurde öffentlich darüber diskutiert, eine neue große Unterkunft für Flüchtlinge zu bauen. Und es stellte sich schnell heraus, dass niemand das wollte, weil es weder für die Flüchtlinge, noch für die Stadt gut ist: Wir wollten keine No-Go-Areas in der Stadt und keine Flüchtlingsheime mit Stacheldraht drumherum. Stadtverwaltung, Flüchtlingsrat und Caritas haben sich dann zusammengesetzt, um ein neues Konzept zur Unterbringung von Flüchtlingen zu erarbeiten und 2002 sind wir dann in eine Testphase mit 80 Flüchtlingen in Privatunterkünften gestartet. Ende 2013 lebten von etwa 1400 Flüchtlingen nur etwa 400 in einem der verbliebenen Übergangsheime.

"Keinerlei Probleme in Mietshäusern"

tagesschau.de: Wie funktioniert das, dass Flüchtlinge eine Wohnung bekommen?

Schillings: Die Flüchtlinge, die Leverkusen zugewiesen werden, kommen zunächst mal in ein Übergangsheim. Dann müssen sie ihre "Wohntauglichkeit" bescheinigt bekommen, das heißt, dass sie sich auf Deutsch verständigen können und beispielsweise keine Probleme in den Heimen verursachen. - Das ist eine Kröte, die wir als Flüchtlingsrat schlucken mussten, weil die Verwaltung anfangs große Bedenken hatte, Flüchtlinge könnten in Mietshäusern Probleme verursachen. - Dann können sie sich eigenständig eine Wohnung suchen.

tagesschau.de: Waren die Bedenken der Verwaltung berechtigt? Kommt es zu Problemen in den Mietshäusern, beispielsweise mit Nachbarn?

Schillings: Nicht zu mehr oder weniger Problemen, als sie andere auch mal mit Nachbarn haben. In all der Zeit musste in Leverkusen noch nie ein Flüchtling wieder in die Sammelunterkunft zurückkehren.

"Ein Anreiz, Deutsch zu lernen"

tagesschau.de: Ist es nicht schwierig für die Flüchtlinge, sich die Wohnungen selbst zu suchen, auch wegen der geringen Deutschkenntnisse?

Schillings: Wir unterstützen sie ein wenig dabei, aber es ist auch ein guter Anreiz für sie, Deutsch zu lernen. Man lernt ja eine Sprache nur, wenn man sie auch anwendet. Das fängt bei der Wohnungssuche an und geht weiter, wenn die Flüchtlinge dann in den Privatwohnungen sind und mit ihrem Umfeld Kontakt aufnehmen. Wenn sie immer nur in der Sammelunterkunft leben, spricht außer dem Sozialarbeiter und dem Hausmeister keiner Deutsch. Ich hatte mal mit einem Syrer zu tun, der fließend Farsi gelernt hat, weil er zusammen mit Iranern untergebracht war, der aber nach Jahren noch kein Deutsch konnte.

tagesschau.de: Gibt es nicht viele Vorurteile bei Vermietern?

Schillings: Es ist in den vergangenen zwölf Jahren vereinzelt vorgekommen, dass Vermieter keine Flüchtlinge wollten. Aber das ist kein Massenphänomen. Es kann schon mal sein, dass ein Vermieter sagt, es ist mir wichtig, mich gut verständigen zu können - und Flüchtlinge sprechen nunmal nicht so gut Deutsch. Und je nach Nationalität hat man es etwas schwerer oder leichter.

Andererseits gibt es die Wohnungsgesellschaften in Leverkusen, die ihre Wohnungen auch an Flüchtlinge vermitteln und dabei darauf achten, dass es eine gute Durchmischung in den einzelnen Gebäuden gibt - also Ausländer unterschiedlicher Nationalitäten und Deutsche.

"Plötzlich grillen alle Nachbarn im Garten zusammen"

tagesschau.de: Wenn die Flüchtlinge dann in Privatwohnungen untergebracht sind, droht da nicht die Gefahr der Vereinsamung?

Schillings: In der Tat erzählen uns manche, dass es für sie schwer ist, in ihrer Umgebung Anschluss zu finden. Die sagen dann: Ich bin eingezogen und mit Tee und Kuchen zu den Nachbarn gegangen und die waren irritiert, weil man sich in Deutschland nicht gegenseitig besucht. Andererseits gibt es auch das Gegenbeispiel, dass in manchen Häusern erst durch die Flüchtlinge echte Hausgemeinschaften entstehen. Plötzlich wird es selbstverständlich, dass man alle Nachbarn einlädt, wenn man im Garten grillt.

Es gibt auch Flüchtlinge, die sich gegen eine Privatwohnung entscheiden, weil ihnen - angekommen in einem fremden Land - erstmal der Anschluss zu Landsleuten wichtig ist. Manchmal kommt dann erst nach einer Weile der Wunsch nach mehr Privatssphäre.

"Günstiger als Sammelunterkünfte"

tagesschau.de: Ist es nicht für die Stadt viel teurer, Flüchtlinge in Privatwohnungen unterzubringen?

Schillings: Nein, im Gegenteil. Allein in der Testphase mit den 80 Flüchtlingen im ersten Jahr hat die Stadt 76.000 Euro eingespart. Die Unterbringung in Wohnheimen ist sehr teuer, weil für Bau, Renovierung und Instandhaltung sehr viel Geld ausgegeben werden muss. Im Jahr 2012 kostete die Unterbringung pro Person in einem Übergangsheim mit allen Nebenkosten 223 Euro pro Person, in einer Privatwohnung nur 148 Euro. Diese Kostenersparnis hatte für die Stadt auch den Ausschlag gegeben, nach der Testphase das Modell für alle Flüchtlinge weiterzuführen.

tagesschau.de: Ist das ein Modell, das in allen Städten funktionieren könnte? In Städten mit sehr angespanntem Wohnungsmarkt dürfte es doch schwierig sein, Wohnungen für Flüchtlinge zu finden?

Schillings: Natürlich ist es in solchen Städten schwieriger Wohnungen zu finden, aber nicht nur für Flüchtlinge, sondern für alle Menschen. In der Tat ist es aber problematischer geworden, Wohnraum für große Familien zu finden. Aber viele Städte praktizieren das Modell bereits, darunter zum Beispiel auch Köln. Dort gibt es ein sogenanntes Auszugsmanagement mit drei Hauptamtlichen, die nichts anderes machen als Flüchtlinge bei der Wohnungssuche zu unterstützen und das funktioniert auch.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de