Scharfe Kritik an deutscher Politik "Mit der Ära Mubarak endet die Ära der Verlogenheiten!"
Nach der Eskalation in Ägypten kritisiert Nahostexperte Michael Lüders den deutschen Außenminister scharf. Westerwelle agiere aus Ratlosigkeit und falscher Rücksichtnahme viel zu zurückhaltend, so Lüders im Interview mit tagesschau.de. Die bisherige Nahost-Politik habe sich als Illusion und Irrglaube erwiesen.
tagesschau.de: Tote und Verletzte in Kairo - lässt sich die Gewalt noch stoppen?
Michael Lüders: Das hängt davon ab, wie sich die nächsten Tage entwickeln. Schwierig wird es nach den Freitagspredigten werden, wenn viele Menschen unterwegs sind. Da kann es zu blutigen Zusammenstößen kommen. Und es hängt davon ab, wie sich die Armee entscheidet: Kann sie sich durchringen, Mubarak fallen zu lassen? Oder hält sie aus Gründen der Staatsräson an ihm fest, zumal für September ohnehin Neuwahlen angesetzt sind? Aber bis dahin dürfte sich Mubarak kaum noch an der Macht halten.
tagesschau.de: Inwieweit ist die Eskalation gewollt und mit Absicht herbeigeführt? Da ist von bezahlten Schlägertrupps die Rede oder von Kriminellen, die man aus Gefängnissen entkommen lässt…
Lüders: Das Regime Mubarak kann sich nicht mehr wirklich auf eine Gefolgschaft in der Bevölkerung stützen. Man hat zwar die Wahlen im November manipuliert und dafür gesorgt, dass acht von zehn Abgeordneten Anhänger von Mubarak sind. Aber das sind eben gekaufte Anhänger. Es sind keine Leute, die aus innerer Überzeugung hinter diesem Regime stehen. Sie profitieren davon. Ein "Pharao" wie Mubarak, der 30 Jahre lang mit eiserner Faust regiert, kommt auch nicht in den letzten Tagen seiner Macht auf die Idee, den demokratischen Dialog zu suchen. Er wird versuchen, die Unruhen im Land zu ersticken.
tagesschau.de: Welchen Einfluss kann und will die internationale Staatengemeinschaft geltend machen? Namentlich die USA, die EU und Deutschland? Jahrzehntelang hat man mit Präsident Mubarak zusammengearbeitet und ihn auch mit Waffen und Geld unterstützt.
Lüders: Die USA versuchen bereits, gewissen Druck auf die ägyptische Regierung auszuüben, vor allem auf das Offiziercorps, damit die Offiziere Mubarak fallen lassen. Washington hat verstanden, dass die Ära Mubarak unwiderruflich zu Ende ist. Die europäische Politik agiert viel zögerlicher. Man versucht, sich durchzulavieren und vermeidet eine Festlegung.
tagesschau.de: Tut Außenminister Guido Westerwelle genug und trifft er die richtigen Entscheidungen?
Lüders: Nein. Der Außenminister ist viel zu zurückhaltend. Er müsste ähnlich wie Präsident Obama Farbe bekennen und Mubarak so direkt wie möglich zum Rücktritt auffordern. Er nimmt Rücksicht auf die anderen europäischen Staaten. Er sorgt sich, möglicherweise "auf das falsche Pferd zu setzen". Und er ist ratlos. Die bisherige Nahost-Politik erweist sich als Illusion. Man hat geglaubt, man könne Diktatoren unterstützen und erhalte dafür Stabilität. Das hat sich als Irrglaube erwiesen. Die Stabilität war wenig mehr als eine Friedhofsruhe, die sich jetzt explosiv entladen hat.
tagesschau.de: Ist auch Israel diesem Irrglauben aufgesessen?
Lüders: Israel befürchtet natürlich, in Mubarak einen "Friedenspartner" zu verlieren. Nur - was ist mit diesem Wort eigentlich gemeint? Der sogenannte Friedensprozess existiert eigentlich nur auf dem Papier. In der Realität gibt es nicht das leiseste Anzeichen dafür, dass die israelische Regierung bereit wäre, die Gründung eines palästinensischen Staates zuzulassen. Mubarak hat das Spiel mitgespielt, als seinen Anteil an einer Fassadenpolitik, die für bestimmte Kreise in Europa und in Israel auch ganz bequem war und ist. Aber mit der Ära Mubarak endet auch die Ära der Verlogenheiten. Die Politik in der Region wird sich neu orientieren müssen.
tagesschau.de: Auf den"Marsch der Millionen" in Ägypten folgt der "Tag des Zorns" im Jemen. Wo liegen Gemeinsamkeiten und wo Unterschiede der Entwicklung?
Lüders: Im Jemen findet sich eine sehr komplexe Gemengelage. Hier treffen politische Vorstellungen archaischer Stammesstrukturen auf die Erfordernisse eines Nationalstaates. Und dieser Staat ist mehr oder weniger pleite. Der Staat hat kein Geld mehr, das er unter den Stämmen verteilen könnte, um sich Loyalität zu kaufen. Auch im Jemen wird Präsident Saleh es nicht schaffen, seinen Sohn als seinen Nachfolger zu inthronisieren und so eine Erbfolge einzurichten. Saleh verzichtet auf eine erneute Amtsausübung. Aber der Jemen ist ein völlig anderes Land. Im Norden und im Süden herrscht Bürgerkrieg. Ob es im Jemen zu einem Regimewechsel kommt, ist fraglich. Hinzu kommt, dass die Regierung ohnehin nicht viel mehr kontrolliert als die Hauptstadt Sanaa.
tagesschau.de: Noch Ende Januar haben Sie, wie viele, gesagt, ein Dominoeffekt nach den Unruhen in Tunesien sei eher unwahrscheinlich. Jetzt scheint aber genau das zu passieren. Welcher Mechanismus ist da in Gang gekommen, der von außen anscheinend schwer einzuschätzen ist?
Lüders: Wenn man glaubt, dass ein Regime nach dem anderen jetzt stürzt, dann ist Skepsis angebracht. Es wird viele Regime geben, die an der Macht bleiben. Aber der Wind des Wandels hat die gesamte Region erfasst. In Saudi-Arabien und in Syrien gibt es noch keine Anzeichen von öffentlichem Protest. Aber auch dort werden die Regierenden verstehen, dass sie sich etwas Neues einfallen lassen müssen, um nicht ebenfalls in den Sog der Ereignisse gezogen zu werden. Alle Regime haben Panik vor dem, was in Tunesien und jetzt in Ägypten geschehen ist. Aber man kann das auch nicht "1:1" übertragen. Entscheidend ist, dass die Ära der alten Männer, die in despotischer Manier über ganze Völker herrschen, vorbei ist. Die arabischen Völker wollen dieselben Freiheiten, die wir auch haben. Das Schöne daran ist, dass sie es möglicherweise ohne Hilfe von außen schaffen können.
Die Fragen für tagesschau.de stellte Ute Welty.