Vor dem Mauerfall Aus dem Westen kamen die Nachrichten
Vor dem Mauerfall gehörten die Tagesschau und die Tagesthemen zu den wichtigsten Informationsquellen in der DDR. Das Filmmaterial, das über den Sender ging, war politisch hoch brisant und oft unter gefährlichen Umständen gedreht.
Über die Grenze, heimlich oder während eines "Friedenspicknicks", Proteste landesweit, immer mehr Menschen, die zu den Montagsdemos kommen, Restriktionen, aber auch der Rückbau von Grenzanlagen und Ausreisegenehmigungen - die Ereignisse in der damaligen DDR und den Nachbarländern spitzten sich im Sommer 1989 zu. Was im eigenen Land geschah, erfuhren die DDR-Bürger jedoch fast nur aus dem Westfernsehen, vor allem aus der Tagesschau und den Tagesthemen. Das Filmmaterial wurde oft unter widrigen, manchmal gefährlichen Umständen gedreht und sogar in den Westen geschmuggelt.
Die Berichterstattung des westdeutschen Fernsehens hatte eine immense Bedeutung für die Stimmung in der DDR. "Wenn unsere Korrespondenten sagten, in zwei Stunden gibt es eine Demo, dann gab es eine Demo, allein deshalb, weil die Leute das im Westfernsehen gehört hatten", sagt Jay Tuck, damals Redakteur bei den Tagesthemen. Das staatliche gelenkte DDR-Fernsehen ignorierte die Proteste bis Mitte Oktober fast komplett. Die Menschen erfuhren in der Regel nicht durch die "Aktuelle Kamera" von den Ereignissen in den ostdeutschen Städten, sondern durch die Nachrichtensendungen des ZDF und der ARD. Beide Sender hatten Korrespondentenbüros in der DDR. "Wir waren für die Bevölkerung drüben eine sehr glaubwürdige Quelle", sagt Tuck.
Picknick als Fluchtchance
Politische Ereignisse sowie das Engagement von Filmemachern und Fernsehsendern im Westen gingen Hand in Hand. Einer der entscheidenden Beiträge lief bereits am 19. August: Das Paneuropäische Picknick im ungarischen Sopron gilt als einer der Meilensteine der Vorgänge, die zum Ende der DDR und zur deutschen Wiedervereinigung führten. Bei dieser Friedensdemonstration an der österreichisch-ungarischen Grenze in der Nähe von Sopron wurde ein Grenztor in Ungarn symbolisch für drei Stunden geöffnet. Tausende Menschen spazierten zwischen den beiden Ländern hin und her, Hunderte DDR-Bürger und -Bürgerinnen nutzen die Chance zum "Rübermachen" - quasi eine erste Massenflucht. Später wurde bekannt, dass es ein Stillhalteabkommen auf ungarischer Seite gab, um die Reaktion in Moskau zu testen.
"Uns war klar, dass das Westfernsehen eine wichtige Rolle gespielt hat in der DDR, das haben uns auch die Korrespondenten vor Ort rückgemeldet. Wir wussten natürlich, dass es das 'Tal der Ahnungslosen' rund um Dresden gab," erinnert sich der damalige Tagesschau-Redakteur Georg Grommes. Sie wussten, dass sie Einfluss hatten. "Auch in Bezug auf andere Themen habe ich das mehrfach miterlebt, zum Beispiel die Diskussion, die wir in den USA ausgelöst haben, als wir die Bilder des toten Soldaten in den Tagesthemen gezeigt haben, der durch Mogadischu geschleift wurde. Wir wussten, dass wir Sichtweisen verändern konnten." Wie wichtig sie als direkte Informationsquelle waren, wurde dem Team in Hamburg aber erst im Laufe des Sommers bewusst. "Dass wir sozusagen aktive Teilnehmer sind, dass unsere Berichte tatsächlich ganz konkrete Folgen auslösten, das wurde erst später bekannt", sagt sein früherer Kollege Tuck.
"Das hat uns alle sehr gequält"
Hinzu kam die Vorsicht bei der Auswahl der Bilder: "Es gab ein großes Bewusstsein, dass wir darauf achten müssen, niemanden zu gefährden", antwortet Grommes auf die Frage, ob nicht die Gefahr bestanden habe, dass die Stasi das Bildmaterial auswertete. "Darüber hat es in der Redaktion intensive Diskussionen gegeben."
Und das Verantwortungsgefühl ging noch weiter. Sein Kollege von den Tagesthemen weiß noch heute, wie sehr ihn beschäftigte, dass bei einer Massendemonstration am Dresdner Hauptbahnhof ein Mann ums Leben kam. Tausenden Fluchtwilligen, die in der Prager Botschaft Schutz gesucht hatten, wurde ab Oktober die Ausreise in den Westen per Zug erlaubt. Die DDR-Führung bestand dabei auf einer offiziellen "Ausbürgerung", indem die Züge über DDR-Gebiet fuhren. "Da war ein junger Mann, der ist vor den Zug gesprungen, um ihn anzuhalten, soweit ich das richtig erinnere. Und der wurde getötet", sagt Tuck. "Es kann auch sein, dass er gefallen ist, durch die Menschenmenge gedrängt. Das hat uns alle sehr beschäftigt und gequält: Ob wir denn durch unsere Vorankündigung diese Situation mit erzeugt und mit zu verantworten hatten. Mit dem Ost-Korrespondenten Claus Richter, mit dem ich befreundet war, habe ich darüber viel gesprochen."
Wo bekommen die nur die Bilder her ...
Ab Anfang September wurde den Korrespondenten westlicher Medien die Berichterstattung aus Leipzig untersagt. Doch die Sender hatten mutige Zulieferer. Die Ostberliner Bürgerrechtler Siegbert Schefke und sein Freund Aram Radomski filmten am 9. Oktober vom Turm der Reformierten Kirche in Leipzig die Menschenmassen und lieferten dem Westfernsehen so die ersten Bilder von den Leipziger Montagsdemos. "Der Siegbert Schefke hat damals auf dem Dach gehockt und niemand hat gewusst, wo bekommen die nur die Bilder her", erinnert sich Ex-Tagesschau-Redakteur Grommes.
Die Filmemacher mussten geschützt werden. Der Autor des Beitrags sprach in den Tagesthemen von "ausländischen Teams", die vor Ort gedreht hätten. "Es sind Bilder mit Sprengkraft, die um die Welt gehen", so der Kultur- und Kunstsoziologe Bernd Lindner, der von 1978 bis 1990 am Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig arbeitete. Ulrich Schwarz, der für den "Spiegel" aus der DDR berichtete, hatte die Aufnahmen in den Westen geschmuggelt. "Schwarz hat die Kassette in seine Unterhose gesteckt und ist so nach Westberlin gefahren", erinnert sich Schefke.
Trotz Skepsis so etwas wie Euphorie in der Luft
Starke Signalwirkung hatten Beiträge wie der von Friedrich Kurz und János Zolcer, der am 22. August in den Tagesthemen ausgestrahlt wurde: Das Team begleitete eine Gruppe junger Leute über die grüne Grenze von Ungarn nach Österreich - eine mitreißende Reportage. Tuck erinnert sich, dass sein Kollege Grommes das Thema in der Planungskonferenz vorschlug. "Ich hatte so eine Ahnung, dass aus der Geschichte etwas werden könnte", so Grommes. Die DDR habe damals noch zur Auslandsplanung gehört.
Die Redakteure wussten natürlich um die Situation in Ungarn, "dass die Flüchtlinge dort immer mehr wurden, es schien eine unlösbare Situation zu sein", erinnert sich Tuck. "Keiner ist auf die Idee gekommen zu dem Zeitpunkt, dass das der Anfang vom Ende der Mauer sein könnte. Aber wir haben uns entschieden, trotzdem ein Kamerateam hinzuschicken. Und trotz der Skepsis, die im Raum war, war da auch etwas wie Euphorie in der Luft."
Wichtiger Bestandteil in dem fast sechsminütigen Beitrag war das Interview mit dem Chef der ungarischen Grenzposten im Bezirk Sopron, Gusztav Ovari. Er stellte klar, dass auf Flüchtlinge nicht scharf geschossen werde, "und wir hetzen auch keine Hunde auf flüchtende Menschen". Viele glaubten ihm - zu Recht. Am 10. September 1989 gestattete die ungarische Regierung allen im Land weilenden DDR-Bürgern die Ausreise über Österreich in die Bundesrepublik.