Pro und Contra Hauptschule in Deutschland Hauptschule: Stigma oder einzige Chance?
UN-Menschenrechtsinspektor Munoz hat das dreigliedrige deutsche Schulsystem in Frage gestellt. Man müsse prüfen, inwieweit es zum "geringen Schulerfolg beiträgt", sagte er in der ARD. Liegt das vor allem an den Hauptschulen? Sollen sie abgeschafft werden? Die wichtigsten Fragen beleuchtet tagesschau.de im Pro-und-Contra-Interview.
Heute stellt der UN-Menschenrechtsinspektor Vernor Munoz seinen Bericht zum Zustand des deutschen Bildungssystems dem UN-Menschenrechtsrat in Genf vor. Es ist bereits klar, dass er die mangelnde Chancengleichheit im Schulsystem hierzulande kritisieren wird. Der Bericht heizt die Diskussion weiter an, die über die Hauptschulen in Deutschland entbrannt ist. Ist das dreigliedrige Schulsystem Schuld am schlechten Befund? Sollte man die Hauptschulen abschaffen oder sind sie vielmehr die letzte Chance für sozial benachteiligte Schüler?
Wir fragten die Hauptschullehrer Andreas Bender und Michael Strohschein nach ihrer Meinung:
PRO | CONTRA |
---|---|
Sollte man die Hauptschule abschaffen? |
|
Andreas Bender: Nein. Die Hauptschule hat ihre Berechtigung, genau wie das Gymnasium oder die Realschule. Und auch auf der Hauptschule haben die Schüler die Möglichkeit, weiterzumachen, einen Realschulabschluss oder sogar das Abitur zu machen. Es gibt ja die Möglichkeiten, sich weiterzuqualifizieren. Die Schüler müssen sich aber natürlich anstrengen. |
Michael Strohschein: Ja. Ich habe täglich mit Hauptschülern zu tun, und ich meine, dass die Hauptschule, so wie wir sie jetzt haben, für diese Jugendlichen nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich ist. Die Schüler übernehmen das Gefühl, dass sie in der Gesellschaft eine geringe Wertschätzung genießen. Das Hauptschul-Paradox heißt doch: Sie sollen sich anstrengen für einen Abschluss, der immer weniger wert ist. |
Nur noch zehn Prozent aller Schüler besuchen noch eine Hauptschule. Hat die Schulform überhaupt noch Zukunft? |
|
Bender: Ja. Wir haben zwar das große Problem, dass die Hauptschule gesellschaftlich als „letzte Lösung“ angesehen wird. Nach dem Motto: Da sind nur noch die Ausländer, die Schläger und die kaputten Typen. Das sehe ich aber nicht so. Jeden Tag erlebe ich ganz normale, nette, freundliche Schüler, die zwar alle aus einem recht schwierigen Umfeld kommen. Aber wir sind ja als Lehrer gerade auch für diese Schüler da. Genau hier hat die Hauptschule ihre Berechtigung. Problematische Schüler fallen in den anderen Schulformen durchs Netz. |
Strohschein: Ich denke nicht. Zur Zeit findet in Deutschland eine Abstimmung mit den Füßen statt: Immer weniger Eltern geben ihre Kinder auf die Hauptschule. Denn sie wissen, dass sie später auf dem Lehrstellenmarkt wenig Chancen haben. Und sie haben Recht, denn die persönliche und die berufliche Zukunft von Hauptschülern ist derzeit in unserer Gesellschaft absolut unsicher. Die soziale Ausgrenzung innerhalb des dreigliedrigen Schulsystems ist fast ein Stigma für Hauptschüler. |
Wie sollte ein ideales Bildungssystem aussehen? |
|
Bender: Ich finde, das dreigliedrige Schulystem sollte beibehalten werden. Denn jede der drei Schulformen hat ihre Berechtigung: Gymnasien und Realschulen konzentrieren sich sehr oft auf die reine Stoffvermittlung. Wir in der Hauptschule versuchen, den Schülern auch menschlich gerecht werden. Und da müssen wir das private Umfeld natürlich mit berücksichtigen. Wir sind hier nicht nur Lehrer, wir sind teilweise Väter-Ersatz und Zuhörer. Hauptschüler haben oft sehr spezifische Probleme. Realschul- oder Gymnasiallehrer haben dafür oft keine Zeit. Denn die müssen ja ihren Stoff durchbringen. |
Strohschein: Das Ideal wäre meiner Ansicht nach, dass alle Schüler bis zum zehnten Schuljahr zusammen bleiben. Keine Selektion. Alle haben ein Recht auf eine gute Zukunft in dieser Gesellschaft. Wir können es uns nicht mehr leisten, dass wir in einer Schulform Schülerinnen und Schüler faktisch ausgrenzen vom gesellschaftlichen Leben. In der Praxis bedeutet dieser Vorschlag, dass sich der Unterricht ändern muss. Alle sollten zusammen lernen, sie sollten aber individualisiert gefördert werden - also gemäß ihren Begabungen auch unterschiedliche Aufgaben bekommen. Das heißt, die Klassen müssten kleiner werden. Mehr Lehrer und eventuell auch Sonderpädagogen müssten in einer Klasse unterrichten. |
Wie viele der Hauptschul-Absolventen an Ihrer Schule finden eine Lehrstelle? |
|
Bender: Am Ende dieses Schuljahres werden fast 20 Schüler einen Ausbildungsvertrag haben. Das ist bei insgesamt 59 Abgängern schon ziemlich gut. |
Strohschein: Genau kann ich das nicht sagen, aber es sind sicher weniger als die Hälfte der Absolventen. |
Die Fragen stellte Sabine Klein, tagesschau.de