Interview

Jörg Schönenborn über Außenminister Steinmeier "Denkmal mit Schrammen, aber festem Fundament"

Stand: 01.02.2007 22:22 Uhr

Die meisten Bundesbürger finden die Entscheidungen der damals rot-grünen Regierung im Fall Kurnaz richtig. Warum viele die Kritik an Außenminister Steinmeier für unberechtigt halten und wieso die Affäre die Bevölkerung weniger interessiert als die Medien, erklärt ARD-Experte Schönenborn im Gespräch mit tagesschau.de.

 

Die deutliche Mehrheit der Bundesbürger unterstützt die Entscheidung der damaligen rot-grünen Bundesregierung, die Rückkehr des Ex-Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz nach Deutschland im Jahr 2002 nicht aktiv betrieben zu haben. Sehr viele halten die aktuelle Kritik an Außenminister Frank-Walter Steinmeier in dem Fall für unberechtigt. Die Debatte über die Affäre interessiere die Bevölkerung ohnehin weitaus weniger als die Medien, sagt ARD-Experte Jörg Schönenborn im Gespräch mit tagesschau.de. Steinmeiers Beliebtheitswerte haben zwar gelitten - aber nach dem Popularitäts-Höhenflug im Januar zählt er immer noch zu den Regierungspolitikern, die das größte Vertrauen der Bevölkerung haben. Das Urteil der Bundesbürger über die Gesundheitsreform sei vernichtend, so Schönenborn. Und auch der wirtschaftliche Aufschwung sorge nicht für gute Stimmung.

tagesschau.de: Außenminister Steinmeier steht wegen des Falls Kurnaz seit Wochen in der Kritik. Dabei geht es vor allem um die Entscheidung der damaligen rot-grünen Bundesregierung, die Rückkehr des Ex-Guantanamo-Häftlings nach Deutschland nicht aktiv zu betreiben. Wie sieht das die Bevölkerung?

Jörg Schönenborn: Das Ergebnis hat uns bei dieser Frage überrascht. Zwei Drittel der Befragten sagen, es war damals wichtiger, so wie die Bundesregierung behauptet, auf Sicherheit zu achten und sich im Zweifel gegen Herrn Kurnaz zu entscheiden. Nur 30 Prozent sind der Ansicht, es wäre wichtiger gewesen, Kurnaz nach Deutschland zu lassen. Unter dieser Minderheit sind vor allem viele Anhänger der Grünen, die mit dieser Entscheidung sehr unzufrieden sind. Aber das Meinungsbild in allen anderen politischen Lagern ist eindeutig: Das Verhalten von damals wird mehrheitlich nicht als Fehler gesehen.

tagesschau.de: Was ist der Hauptgrund für diese Einschätzung der Gesellschaft: das Bedürfnis nach Sicherheit und Angst vor Terrorismus nach den Anschlägen vom 11.September 2001 oder eher Vertrauen in die Entscheidungen von Steinmeier und Co. zu der damaligen Zeit?

Schönenborn: Ich denke, dass beides eine Rolle spielt. Im Kern ist aber der Schlüsselbegriff Sicherheit nicht zu unterschätzen. Er ist ja auch das Argument der damaligen Verantwortlichen, und ganz offensichtlich ist eine Mehrheit im Zweifel dafür, der Sicherheit Vorrang zu geben. Dass Steinmeier großes Vertrauen genießt oder genossen hat, kommt sicher hinzu. Er war ja im letzten Monat auf seinem Popularitätsgipfel überhaupt.

tagesschau.de: Eine große Mehrheit ist der Ansicht, dass es keinen Rücktrittsgrund für Steinmeier gibt, 47 Prozent halten die aktuelle Kritik für unberechtigt. Woran liegt das, interessiert die Bevölkerung die Debatte über Kurnaz weitaus weniger als die Medien?

Schönenborn: Ganz offensichtlich ist es so, dass die Debatte in der Bevölkerung nicht greift. Mich hat sehr gewundert, dass nicht einmal die Kritik für berechtigt gehalten wird. Da gibt es ja in der Pressekommentierung einen völlig anderen Tenor. Selbst wenn man nicht fordert, dass Steinmeier zurücktritt, ist die Kritik an ihm ja doch massiv. Das kommt bei der Bevölkerung nicht an, und bei der Rücktrittsfrage ist es dann eindeutig: Über 70 Prozent finden, er soll im Amt bleiben. Wir haben es nach meiner Einschätzung hier mit einem Thema zu tun, dass in den Medien eine ungleich größere Bedeutung hat als in den Köpfen der Menschen.

tagesschau.de: Dennoch hat die Debatte über den Fall Kurnaz Steinmeiers Ansehen eklatant geschadet, sein Beliebtheitswert sank innerhalb eines Monats von 69 auf 47 Prozent. Wie passt das zusammen?

Schönenborn: Ich würde sagen, das Denkmal Steinmeier hat Schrammen gekriegt, aber das Fundament ist fest, es bröckelt nicht. Dabei muss man sehen, dass Steinmeier im letzten Monat die höchste je für ihn gemessene Zustimmung hatte. Jetzt hat er einen tiefen Fall getan, 22 Punkte verloren, aber damit ist er immer noch unter den Top Vier und auf einem Niveau etwa mit Steinbrück, der ja als durch und durch seriöser Finanzminister gilt. Also muss man den Eindruck ein bisschen korrigieren. Steinmeier ist im Grunde auf das Normalmaß der Bundesregierung zurückgestutzt worden.

tagesschau.de: Bei der Abstimmung über die Gesundheitsreform werden viele Abgeordnete der Koalition mit Nein stimmen. Wieweit glaubt die Bevölkerung an den Erfolg der Reform und: Ist den Menschen klar geworden, was die Reform bedeutet?

Schönenborn: Das Urteil über diese Gesundheitsreform ist vernichtend. Wir haben Fragen zu diesem Thema im letzten Jahr immer wieder gestellt, und das Urteil ist nicht besser geworden, sondern die Kritik eher massiver. Die Hauptkritik konzentriert sich auf zwei Punkte: Zum einen sehen drei Viertel nicht, dass das System finanziell besser aufgestellt ist nach dieser Reform. Zum anderen sagen ebenfalls drei Viertel, es wird nicht gerechter zugehen im Gesundheitswesen. Also werden die beiden Haupterwartungen, die man hat, nicht erfüllt.

tagesschau.de: Hat die derzeit positive Entwicklung der deutschen Wirtschaft und des Arbeitsmarktes einen positiven Effekt auf die Beurteilung der Arbeit der Regierungsparteien?

Schönenborn: Nein, hat sie nicht. Wir haben im letzten Monat erhoben, dass die Mehrheit glaubt, die Bundesregierung habe kaum Anteil an der wirtschaftlichen Situation. Vielleicht kann man das Ganze besser verstehen, wenn man auf eine Frage guckt, die wir jetzt gestellt haben: Wir wollten wissen: Glauben Sie persönlich, dass Sie etwas von diesem Aufschwung haben, der jetzt kommt. Da haben drei Viertel mit Nein geantwortet. Das heißt, die Stimmung in der Gesellschaft ist: der Aufschwung ist zwar da, aber ich selbst habe nichts davon.

Das Gespräch führte Hedwig Göbel, tagesschau.de