Interview mit Sporthistoriker und DDR-Experte Perfektes Dopen mit der Stasi
Ob Trainer, Sportler oder Funktionäre – mehr als 3000 inoffizielle Mitarbeiter jährlich spionierten im Auftrag des Ministeriums der Staatssicherheit (MfS) den DDR-Leistungssport aus. In seiner Studie (2006) belegt der Sporthistoriker Giselher Spitzer, wie kontrolliert dieser Bereich war. Im Interview mit tagesschau.de stellt Spitzer fest: Ohne Stasi hätte es diese Medaillen und dieses Doping in der DDR nicht gegeben.
tagesschau.de: Was ist neu an der Studie, die Sie jetzt präsentieren?
Spitzer: Das Wichtigste der Studie ist eigentlich, dass jetzt bewiesen ist, dass das MfS ein Systembestandteil war. Es war nicht einfach eine Gruppe, die kontrollierte, sondern ohne die Stasi hätte es diese Medaillen und dieses Doping nicht gegeben. Die Durchherrschung war perfekt. Durch die Stasi gab es ein System ohne Widerstand und mit Befehlen, die wie beim Militär befolgt wurden. Die Opfer, ob gesundheitliche oder politische, wurden mundtot gemacht. Sie konnten weder die Gesellschaft informieren noch zur Zeitung gehen. Und wenn sie als Republikflüchtlinge im Westen die Zustände angeprangerten, dann konnte man es ihnen nicht glauben, weil es zu unwahrscheinlich klang.
tagesschau.de: Zu welchen Aspekten gibt die Studie Auskunft?
Spitzer: Ich habe mir die Strukturen angeschaut und festgestellt, dass der Sport einen immer größeren Teil der Stasi-Arbeit einnahm. Ich habe Kontakte zu vielen Geschädigten aufgenommen und bin zu dem Schluss gekommen, dass die Verfolgung oft härter war, als vom MfS geplant. Wenn zum Beispiel ein Sportler im Sinne des Systems aufsässig war und sich beispielsweise für "Schwerter zu Pflugscharen" ausgesprochen hatte, wurde der sofort aus dem Sport entfernt. Er musste die KJS (Kinder- und Jugendsportschule) verlassen und durfte nicht abtrainieren. Bei der Befragung eines Zeitzeugen stellte ich fest, dass er regelrecht zur Ausreise gezwungen wurde, weil ihm alles kaputt gemacht wurde: die Lehrstelle, der Freundeskreis. Ursprünglich sollte er jedoch nur den Sportbereich verlassen und in die Produktion gehen.
IM - nicht aus politischer Überzeugung
Dann habe ich die Motive der inoffiziellen Mitarbeiter noch einmal beleuchtet. Da stellt man immer wieder fest, dass IMs zwar offiziell aus politischer Überzeugung handelten, in Wirklichkeit aber eine Karriere verfolgten. Denn vom Moment ihrer Mitarbeit an erhielten sie alle Vergünstigungen: berufliche Förderung, Schutz bei Problemen, Geld. Man kann davon ausgehen, dass fünf Prozent der IMs sich selbst lösten, weil sie beispielsweise in innere Konflikte kamen oder nicht mehr spionieren wollten. Denen ist nichts passiert, sie wurden beruflich beispielsweise nicht benachteiligt. Argumente wie "Ich musste ja" sind nicht richtig.
MfS: Ministerium für Staatssicherheit
IM: Inoffizieller Mitarbeiter
IMS: Inoffizieller Mitarbeiter, der mit der Sicherung eines gesellschaftlichen Bereichs oder Objekts beauftragt ist
tagesschau.de: Wie viele IMs waren im Sportbereich tätig?
Spitzer: Schätzungsweise mindestens angewiesen 3000 IMs in einem Jahr. Zunächst wurden nur Funktionäre geworben, bis das MfS feststellte, dass in allen Bereichen IM sein mussten, um alles zu wissen. Etwa seit 1971 wurden deshalb auch gezielt Sportler angeworben.
tagesschau.de: Sie nennen in Ihrer Studie auch Klarnamen.
Spitzer: Ja, ich sage immer, die Stasi-Mitarbeit muss offengelegt werden. Überall dort, wo ich es vertreten kann und die Aktenlage es zeigt, nenne ich die inoffiziellen und offiziellen Mitarbeiter beim Namen. Beispielsweise IM "Kapitän" - das war der Kapitän der Leichtathletik-Nationalmannschaft Udo Beyer, Kugelstoßer aus Potsdam. Oder IMS "Karin Reger" alias Evelyn Jahl. Die Diskuswerferin berichtete wiederum über den als „Kapitän“ erfassten Sportler so negativ, dass die Hälfte des Textes von der Stasi-Unterlagen-Behörde zum Schutz der Persönlichkeitsrechte geschwärzt werden musste.
Den Leipziger Siegfried Brietzke warb die Stasi "zur Kontrolle der Leistungssportler, die abweichendes Denken aufweisen" und führte ihn als IMS "Charlie". Der Vorzeigeruderer war mehrfacher Olympiasieger, Weltmeister und Träger des mit einer Rentenzahlung verbundenen Vaterländischen Verdienstordens in Gold. 1984 erhielt er den höchsten Orden des Olympischen Komitees und stieg 1987 in der DDR zum Trainer auf.
Was den Historiker Giselher bei seinen Forschungen überraschte und welche neuen Erkenntnisse er zum Thema "Zwangsdoping" gewann, lesen Sie im 2. Teil des Interviews.