Sozialwissenschaftler zur Armutsdebatte "Die SPD weint Krokodilstränen"
Den von Armut betroffenen darf man nicht die Schuld für ihr Schicksal in die Schuhe schieben, sagt Christoph Butterwegge im Interview mit tagesschau.de. Der Staat ziehe sich zunehmend aus seiner Verantwortung zurück. Auch Bildung tauge nicht als Wunderwaffe gegen Armut.
tagesschau.de: Warum thematisiert die SPD auf einmal die "Unterschicht"? Sie produziert dabei vor allem ja Streit in den eigenen Reihen?
Butterwegge: Wenn führende SPD-Politiker jetzt das Entstehen einer "neuen Unterschicht" beklagen, die ihre Regierungspolitik mit geschaffen hat, handelt es sich um pure Heuchelei und Krokodilstränen. Vielleicht will die SPD dadurch von ihren dramatischen Wahlniederlagen und Mitgliederverlusten ablenken, die nicht zuletzt auf ihre unsoziale Regierungspraxis zurückzuführen sind. Man will sich offenbar wieder stärker als Volkspartei und als Interessenvertretung der sozial Benachteiligten profilieren, damit die neue Linkspartei nicht zur ernsthaften Konkurrenz wird.
tagesschau.de: Welche Rolle spielt die Politik der vergangenen Jahre? Hat Hartz IV eine neue "Unterschicht " produziert?
Butterwegge: Durch den Um- beziehungsweise Abbau des Sozialstaates, die Agenda 2010 von Bundeskanzler Gerhard Schröder, die so genannten Hartz-Gesetze und die letzten Gesundheitsreformen wurde die Armut vergrößert. Besonders durch Hartz IV breitete sie sich bis in die Mitte der Gesellschaft aus. Aus dem Sozialstaat, wie wir ihn bisher kannten, wird immer mehr ein Almosen- und Suppenküchenstaat.
"Flüchtlingsfamilien sind besonders betroffen"
tagesschau.de: Wer ist betroffen?
Butterwegge: Migranten haben noch weniger Chancen als Einheimische, sich beruflich zu etablieren und ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit zu erlangen. Das gilt weniger für die so genannten Gastarbeiter als für Flüchtlingsfamilien und "Illegale", die überhaupt keinen Zugang zu Bildung und medizinischer Betreuung haben, weil sie fürchten müssen, abgeschoben zu werden. Wer in wichtigen Lebensbereichen wie Arbeit und Bildung, Gesundheit, Wohnumfeld und Freizeit benachteiligt und dadurch von der Beteiligung am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben ausgeschlossen ist, zählt zu den sozial Benachteiligten. Bei extremer Ausprägung dieser Notlage spricht man von sozialer Exklusion.
tagesschau.de: Ist man selbst Schuld, wenn man dazu gehört?
Butterwegge:In manchem Einzelfall ja, aber meistens nicht. Insgesamt sind mindestens zehn Millionen Menschen in der Bundesrepublik betroffen, wenn man Arbeitslose, Sozialleistungsbezieher und prekär Beschäftigte zusammenzählt. Da spielt individuelles Versagen nur eine untergeordnete Rolle. Man macht es sich zu einfach, wenn man den Betroffenen die Schuld in die Schuhe schiebt und ihnen - wie Kurt Beck - mehr Aufstiegsmotivation abverlangt. Perspektivlosigkeit führt nämlich fast zwangsläufig zu Passivität und Apathie. Wer als Haupt- oder Sonderschüler im unserem Bildungssystem keine Chance hat, eine Lehrstelle zu bekommen, resigniert leicht.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge ist Direktor des Instituts für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Seit Jahren beschäftigt er sich mit den Themen Armut und Sozialstaat. Gerade ist von ihm das Buch "Armut im Alter - Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung" erschienen.
"Der Staat zieht sich aus seiner Verantwortung zurück"
tagesschau.de: Wer trägt dann die Verantwortung?
Butterwegge: "Selbstverantwortung" wäre ein würdiges "Unwort des Jahres", weil dieser Begriff davon ablenkt, dass sich Staat, Wirtschaft und Gesellschaft aus ihrer sozialen Verantwortung zurückziehen. Statt noch mehr Druck auf die Unterschichten zu machen, könnte man auch den Druck auf die Oberschichten erhöhen. Warum zahlen Franz Beckenbauer, Jürgen Klinsmann, Günther Netzer, Michael Schumacher, Thomas Gottschalk und andere Multimillionäre hierzulande keine Steuern, sondern entfliehen ihrer finanziellen Verantwortung für das Gemeinwesen? Sozial gerecht ist das nicht.
tagesschau.de: Politiker aller Parteien fordern jetzt in erster Linie mehr Bildung – gerade für soziale Schwache. Ist das die Lösung, um die "Unterschicht" zu verlassen?
Butterwegge: Mich stört die Pädagogisierung des Armutsproblems, das momentan beinahe durchgängig auf „Bildungsarmut" verkürzt wird. Zwar werden die Armen dumm gemacht, die Klugen aber deshalb nicht reich. Anders gesagt: Fehlende oder mangelhafte Bildung kann die Armut zementieren, ist jedoch nur deren Auslöser, nicht die Ursache materieller Not. Umgekehrt führt materielle Armut fast immer zur Bildungsbenachteiligung. Bildung taugt deshalb nicht als Wunderwaffe im Kampf gegen allgemeine und Kinderarmut, zumal sie zusehends privatisiert und damit zu einer Ware wird, die sich Arme gar nicht leisten können.
tagesschau.de: Worin besteht eine mögliche Lösung?
Butterwegge: So wichtig mehr Bildungsangebote für sozial benachteiligte Kinder – auch schon und gerade im Vorschulalter – sind, so wenig können sie allein das Problem lösen. Denn was zum individuellen Aufstieg taugen mag, versagt als gesellschaftliches Patentrezept. Wenn alle Kinder mehr Bildung bekämen, würden sie um die wenigen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplätze nur auf einem höheren Niveau, aber nicht mit besseren Chancen konkurrieren. Folglich gäbe es mehr Taxifahrer mit Abitur, aber kaum weniger Armut.
Die Fragen stellte Wolfram Leytz per Email.