Parteienforscher zum Profil von Joachim Gauck "Gauck wird keine eierlegende Wollmilchsau"
Er wird fast schon zu einer Art Erlöserfigur stilisiert - der Konsenskandidat Joachim Gauck. Am 18. März soll er von der Bundesversammlung gewählt werden, danach dem Amt des Bundespräsidenten wieder Würde verleihen. Kann er den hohen Erwartungen gerecht werden? Ja und nein, sagt Parteienforscher Gero Neugebauer im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Joachim Gauck wurde bereits vor der Bundespräsidentenwahl 2010 von SPD und Grünen fast in den Himmel gelobt. Jetzt zieht die schwarz-gelbe Koalition notgedrungen nach. Kann er den großen Erwartungen gerecht werden?
Gero Neugebauer: Nein, den Erwartungen des Himmels sicher nicht. Aber die, die ihn damals nominiert haben, hatten die Erwartungen ja auch etwas tiefer gehängt. Sie wollten eine Person, die nicht im aktiven, politischen Tagesgeschäft ist und politisch nicht polarisiert hat. Sie wollten einen, der in der Lage ist, versöhnend und nicht spaltend zu wirken. Die hohen Erwartungen, die heute an ihn gerichtet werden, speisen sich zum Teil aus der Person Gauck, zum Teil aber auch aus der Misere der Amtsführung von Herrn Wulff. Hier besteht in der Tat die Hoffnung, dass Gauck diesem etwas abgewirtschafteten Amt wieder zu einer besseren Reputation verhilft. Diese Erwartungen kann er erfüllen.
"Gauck weiß, wann er polarisieren kann und wann nicht"
tagesschau.de: Nun ist Gauck auch eine streitbare Person. Er hat Thilo Sarrazin "Mut" attestiert, hat die Proteste der Occupy-Bewegung "unsäglich albern" genannt und Hartz IV begrüßt.
Neugebauer: Bisher hat Gauck als Bürger Stellung bezogen, sicherlich in einer Weise, die konform mit seinen politischen Ansichten ist. Bei seinen Äußerungen zu Occupy hat er in der Tat nicht die Erwartungen erfüllt, die man an jemanden hat, der einer Bewegung des Ungehorsams gegen ein politisches Regime entstammt. Offenbar billigt er das denen, die sich heute politisch unkonventionell verhalten, nicht zu. Andererseits hat er mit seinen Äußerungen zu Sarrazin oder Hartz IV keine ausgesprochenen Minderheitenmeinungen vertreten. Trotzdem wird er das künftig nicht mehr machen. Er ist klug genug zu wissen, wann er polarisieren kann und wann nicht.
tagesschau.de: Gauck gilt als schwer kalkulierbar. Wird er der Regierung ungemütlich werden?
Neugebauer: Ich halte es für notwendig, dass er ungemütlich wird. Er soll ja nicht nach dem Motto verfahren "Wessen Brot ich ess', dessen Lied ich sing." Er hat bereits deutlich gemacht, dass er nicht undankbar sein wird gegenüber denjenigen, die ihn nominiert haben. Nun wird er allerdings aus einer Koalition aus zwei Lagern getragen. Wenn er hier allen gehorsam sein wollte, wäre er eine "eierlegende Wollmilchsau" und hätte kein eigenes Profil. Das wird aber nicht passieren. Gauck zeichnet sich dadurch aus, deutlich und pointiert seine Meinung zu sagen. Das könnte schon dazu führen, dass der ein oder andere sich hinterher verletzt fühlt, weil er denkt: "Nun hab ich ihn ins Amt gehievt, jetzt hat er uns gewogen zu sein."
"SPD und Grüne haben Merkels Zwickmühle ausgenutzt"
tagesschau.de: "Ende gut, alles gut", resümierte Sigmar Gabriel. Werden SPD und Grüne diese Nominierung noch bereuen? So ganz auf ihrer Linie liegt Gauck ja nicht.
Neugebauer: Es wird ihnen reichen, dass der Kandidat ausgewählt wurde, den sie schon vor zwei Jahren nominiert haben. Sie haben ja nicht allzu viel zu befürchten. Der Präsident widmet seine Aufmerksamkeit nicht den tagespolitischen Auseinandersetzungen. Er wird auch keine Wahlaufrufe machen. SPD und Grüne haben die Zwickmühle ausgenutzt, in die Frau Merkel sich selbst begeben hat. Das war taktisch und politisch klug. Insofern können sie sich jetzt gelassen zurücklehnen und Gauck zu den großen Fragen Stellung beziehen lassen. Und dann werden sie nicht in Ehrfurcht erstarren, sondern gegebenenfalls auch widersprechen. Wenn Gauck sich künftig in Gegenposition begeben sollte, dann wohl eher zum Regierungshandeln als zur Opposition.
tagesschau.de: Wollten SPD und Grüne ihn wirklich oder konnten sie einfach nur nicht mehr zurück?
Neugebauer: Sie wollten ihn, weil er der geeignete Kandidat war, um das Regierungslager vorzuführen. Frau Merkel hat den Fehler gemacht, die FDP nicht von Anfang an in ihre Strategie der Kandidatenfindung einzubinden. Die FDP hat der Opposition dann in die Hände gespielt und Frau Merkel hat dadurch eine Niederlage erlitten.
tagesschau.de: Wie wird sich diese Niederlage auf die weitere Zusammenarbeit der Koalition auswirken?
Neugebauer: Die Arbeit in der Koalition war auch vorher schon von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Insofern wird diese Entwicklung nur noch verschärft, das heißt: weniger Vertrauen und sehr viel mehr Probleme für Frau Merkel, diese Koalition zusammenzuhalten. Wenn das Verhalten der FDP typisch sein sollte, dann kann man daran ablesen, dass sie eine Strategie des begrenzten Konflikts verfolgt. Wenn es sein muss, würde sie einen Koalitionsbruch riskieren.
"Nur im Konflikt kann die FDP Profil gewinnen"
tagesschau.de: Welches Kalkül steckt hinter dem Vorstoß der FDP?
Neugebauer: Die FDP hat im Augenblick kein Profil. Nur im Konflikt kann sie Profil gewinnen, nur so wird sie wieder interessant für ihre Anhänger. Das Kalkül speist sich sicherlich aus den Erfahrungen der Vergangenheit. Sie werden sich gedacht haben: Wenn ein Fehler der Kanzlerin uns die Möglichkeit gibt, Profil zu zeigen, dann müssen wir das auch tun, sonst haben wir verloren.
tagesschau.de: Welche Konsequenzen wird das für den Bundestagswahlkampf haben?
Neugebauer: Die Parteien können nicht in den Wahlkampf gehen und so tun, als hätten sie die letzten Jahre nicht miteinander gearbeitet. Das heißt auch, dass die Union nicht auf die FDP einschlagen wird. Die Strategie der Union wird sein: "Über allem schwebt Frau Merkel, lasst die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter." Sie wird darauf abzielen, die Union zur stärksten Partei werden zu lassen, an der vorbei keine Regierung gebildet werden kann.
Die FDP wird weniger Rücksicht nehmen. Sie wird deutlich machen, dass die Union bestimmte Erwartungen der Wähler nicht erfüllt hat. Ob die FDP so stark wird, um wieder in eine Koalition zu gehen oder ein anderes Bündnis zu verhindern, ist wirklich offen. Ausschließen würde ich trotz des gemeinsamen Kandidaten Gauck, dass Herr Rösler mit der Zustimmung zu der Kandidatur ein Signal für eine Ampel setzen wollte.
Die Fragen stellte Sandra Stalinski, tagesschau.de