NSU-Prozess zum Mord in Kassel "Er gab keine Antwort"
Es war einer der emotionalsten Tage im NSU-Prozess: Unter Tränen schilderte der Vater des Kasseler Mordopfers Halit Yozgat, wie er seinen 21-jährigen Sohn am Tatort fand. Die Aussage eines Ex-Verfassungsschützers sorgte indes für Skepsis.
Von Holger Schmidt, SWR, ARD-Terrorismusexperte
Wie muss es sich für einen Vater anfühlen, wenn der eigene Sohn in seinen Armen stirbt? Ismail Yozgat hat es am 06. April 2006 erlebt, als er von einem Besuch in der Innenstadt von Kassel in das Internetcafé seines Sohnes in der Holländischen Straße zurückkam. Halit Yozgat lag erschossen hinter dem Tresen, zwei Kugeln steckten in seinem Kopf.
Sieben Jahre nach der Tat sagte Ismail Yozgat heute als Zeuge vor dem Oberlandesgericht München aus. Der 58-jährige Frührentner bezeichnete die mutmaßlichen Opfer des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) heute als Märtyrer - und wandte sich direkt an Beate Zschäpe und die anderen Angeklagten: "Warum haben Sie mein Lämmchen getötet?", fragte Yozgat.
Emotionale Aussage
Er schilderte, wie er den Kopf seines Sohnes damals in die Hand genommen habe, doch Halit habe nicht mehr reagiert. Ismail Yozgat sprang vom Zeugenstuhl auf und rief erregt immer wieder: "Er gab keine Antwort!" Beate Zschäpe verschränkte die Arme und starrte geradeaus vor sich hin.
Vielen Besuchern und Beteiligten war dagegen anzumerken, wie nahe ihnen diese Aussage ging. Es war der bislang emotionalste Moment des Prozesses. Am Nachmittag kam dann der mit Spannung erwartete frühere Verfassungsschützer Andreas T. als Zeuge. T. galt für die hessische Polizei lange als Verdächtiger, weil er kurz vor oder sogar während der Tat im Internetcafé war, sich aber nicht von selbst als Zeuge gemeldet hatte.
Erst durch Hinweise anderer Zeugen bemerkte die Polizei, dass offenbar noch ein weiterer Besucher vor Ort war und sich nicht gemeldet hatte. Über eine Telefonnummer, die in einem Internetforum verwendet worden war, kam sie auf Andreas T. und nahm ihn fest. Erst zu diesem Zeitpunkt erkannten die Ermittler, dass sie es mit einem Verfassungsschutzbeamten zu tun hatten - was den Argwohn der Fahnder nicht gerade kleiner machte.
Skepsis gegenüber den Angaben des Zeugen T.
Inzwischen sind alle Beteiligten klüger, kaum jemand hat den Eindruck, Andreas T. könne mit der Tat zu tun haben. Doch dass er nichts von dem Anschlag auf Halit Yozgat bemerkt haben will, als er das Internetcafé verließ, ist kaum zu glauben. Sofern er nicht noch während des Mordes vor Ort war, bleiben nach Berechnungen der Polizei maximal 41 Sekunden für die Tat und das unbemerkte Verschwinden der Täter - bevor Ismail Yozgat seinen Sohn fand.
Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl machte aus seiner Skepsis über die Angaben des Zeugen T. keinen Hehl. Hat Andreas T. wirklich nichts mitbekommen? Auch andere Besucher des Cafés haben die Schüsse nicht gehört, vermutlich wurde ein Schalldämpfer verwendet. Rekonstruiert man die zeitlichen Abläufe, müsste Andreas T. geradezu über den Sterbenden gestolpert sein. Doch er will nichts bemerkt haben.
Andreas T. hielt auch heute an der Version der Ereignisse fest, auf der er seit April 2006 besteht: Er sei in dem Internetcafé gewesen, um in einem "Flirt-Forum" im Internet Kontakt zu suchen - obwohl er frisch verheiratet war und seine Frau damals ein Kind erwartete. Als er im Nachhinein von der Tat erfahren hatte, fürchtete er dienstliche und private Konsequenzen - und schwieg deshalb, bis die Polizei vor ihm stand und ihn als Tatverdächtigen festnahm.
Manfred Götzl sezierte diese Erklärung des Zeugen präzise und scharfsinnig und hielt ihm vor, dass seine angebliche "Angst" vor Konsequenzen objektiv völlig unbegründet gewesen sei, falls er tatsächlich nichts mitbekommen habe. Im Gegenteil: "Angst" müsse er doch nur gehabt haben, falls da etwas anderes gewesen sei, als er es erzählt.
In Panik aus dem Laden geflüchtet?
Der Verdacht steht im Raum: Hat der damalige Verfassungsschützer möglicherweise doch den sterbenden Halit Yozgat gesehen und ist in Panik aus dem Laden geflüchtet? Andreas T. blieb bei seiner Version, räumte ein, dass sein Verhalten unlogisch und falsch gewesen sei - doch so sei es nun mal gewesen. Eine Menge Skepsis blieb bei allen Beteiligten. Die Vernehmung wurde am Nachmittag aus Zeitgründen unterbrochen und wird zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt.
Schon jetzt zeichnet sich aber ab, dass diese Vernehmung eine andere Qualität hat, als die Befragung von Andreas T. im Bundestags-Untersuchungsausschuss. Auch dort wurde T. schon befragt - doch die Abgeordneten machten es T. sehr viel leichter, auf seiner Version der Ereignisse zu beharren.