Ein Arzt misst in einer Bereitschaftspraxis in einem Krankenhaus in einem Untersuchungsraum bei einer Patientin den Blutdruck (gestellte Szene). Im Vordergrund liegt ein Stethoskop. In Baden-Württemberg sollen 18 Notfall-Praxen geschlossen werden. 90.000 Patienten wären davon betroffen.

Baden-Württemberg Tausende von Schließung von Notfallpraxen in BW betroffen - Kretschmann mit Kritik an Begrifflichkeit

Stand: 19.11.2024 13:28 Uhr

Die geplante Schließung von 18 Notfallpraxen in Baden-Württemberg sorgt für Aufregung. Rund 90.000 Patienten wären betroffen, so das Gesundheitsministerium auf SPD-Anfrage.

Die Diskussionen um die geplante Schließung von 18 Notfallpraxen in Baden-Württemberg halten an. Davon betroffen wären rund 90.000 Patientinnen und Patienten. Das geht aus der Antwort des Gesundheitsministeriums auf Anfragen der SPD-Fraktion im baden-württembergischen Landtag hervor, die dem SWR vorliegen.

Anfragen zu fast allen Notfallpraxen

Die SPD-Fraktion hat Daten und Fakten zu 16 der 18 Notfallpraxen abgefragt, die auf der Schließungsliste stehen. Dort sind im vergangenen Jahr insgesamt 86.000 Menschen behandelt worden. Davon allein 15.000 Patientinnen und Patienten in Backnang (Rems-Murr-Kreis), wo vor zehn Jahren das Kreiskrankenhaus geschlossen wurde. Auffallend auch: die meisten Notfallpraxen haben gegenüber dem Vorjahr steigende Patientenzahlen. Nagold (Kreis Calw) beispielsweise plus 14 Prozent, Münsingen (Kreis Reutlingen) plus 12 Prozent oder Eberbach (Rhein-Neckar-Kreis) plus 10 Prozent.

Das Gesundheitsministerium Baden-Württemberg verweist in seiner Antwort auf die Argumentation der Kassenärztlichen Vereinigung, wonach der ärztliche Bereitschaftsdienst neu strukturiert werden müsse, weil knapp 1.000 Hausarztsitze nicht besetzt seien. Wenn in den nächsten Wochen das Strukturkonzept vorliege, würden noch digitale Angebote, der Ausbau der Fahrdienste oder Patientensteuerung am Telefon geprüft, teilt das Ministerium auf SWR-Anfrage mit.

Kretschmann mit Kritik an Begriff der "Notfallpraxen"

Kretschmann mit Kritik am Begriff der "Notfallpraxen"

Auch Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) unterstrich am Dienstag in Stuttgart die Notwendigkeit der Reform. Die "ganze ambulante Ärzteschaft" habe ihm bei persönlichen Gesprächen versichert, dass die Strukturreform des Bereitschaftsdienstes kommen müsse. "Für echte Notfälle sind die Notfallambulanzen zuständig", so Lucha. "Für echte Notfälle gehen sie ins Krankenhaus." Bei den sogenannten Notfallpraxen, so stellte Lucha klar, handele es sich dagegen um Bereitschaftsdienstangebote. Die nutze man aus seiner Sicht mit Beschwerden, mit denen man normalweise zum Hausarzt gehe.  Dies werde künftig durch den Ausbau telemedizinischer Angebote auch noch einmal deutlicher beraten, so Lucha weiter.

Der Grünen-Politiker verwies darauf, dass die verbleibenden Praxen zu größeren Einheiten verschmolzen werden. Die Pläne sehen vor, dass künftig jeder Stadt- und Landkreis mindestens eine Notfallpraxis haben soll. Außerdem sollen die Praxen für alle Menschen in Baden-Württemberg innerhalb von 30 bis 40 Minuten Fahrzeit erreichbar sein. Lucha sprach am Dienstag von einer effizienteren Ausstattung, damit man die Ressourcen besser bündeln könne. Die Kassenärztliche Vereinigung (KVBW) lege hierzu Erhebungszahlen mit Patientenströmen vor, auf die reagiert werde, so Lucha. Er betonte: "Ich gehe am Ende sogar davon aus, dass es eine qualitative Verbesserung der Versorgung gibt."

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) kritisierte indes die Bezeichnung der Notfallpraxen. Dass diese, wie Lucha betonte, eigentlich "Bereitschaftsdienstpraxen" heißen, sei keine Wortklauberei, so der 76-Jährige. In den Praxen werden in der Regel aber keine Notfälle behandelt, so Kretschmann, "es sei denn, man betrachtet jede Krankheit schon als Notfall. Das ist aber nicht der Fall, sonst entsteht bei der Bevölkerung ein falscher Eindruck, nämlich dass sie in Notfällen nicht das haben, was man braucht".

In diesen Städten in BW sollen Notfallpraxen geschlossen werden

  • Achern (Ortenaukreis)
  • Albstadt (Zollernalbkreis)
  • Backnang (Rems-Murr-Kreis)
  • Bad Saulgau (Kreis Sigmaringen)
  • Brackenheim (Kreis Heilbronn)
  • Eberbach (Rhein-Neckar-Kreis)
  • Ellwangen (Ostalbkreis)
  • Ettlingen (Kreis Karlsruhe)
  • Herrenberg (Kreis Böblingen)
  • Kirchheim unter Teck (Kreis Esslingen)
  • Müllheim (Kreis Breisgau-Hochschwarzwald)
  • Münsingen (Kreis Reutlingen)
  • Nagold (Kreis Calw)
  • Neuenbürg (Enzkreis)
  • Oberndorf (Kreis Rottweil)
  • Tettnang (Bodenseekreis)
  • Schwetzingen (Rhein-Neckar-Kreis)
  • Wolfach (Ortenaukreis)

Anhaltende Kritik an geplanter Schließung von Notfallpraxen

Die von der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) geplante Schließung von 18 Notfallpraxen soll im April 2025 beginnen und schrittweise vollzogen werden. Kritik daran kommt unter anderem von Abgeordneten im baden-württembergischen Landtag. Gesundheitspolitikerinnen und -politiker mehrerer Fraktionen kritisieren, dass die Zahl der zu schließenden Notarztpraxen zu hoch gegriffen sei. Angesichts der bisherigen Schließungen und der 18 weiteren Standorte, die wegfallen sollen, sprechen manche in der Opposition von einem Kahlschlag im System der Versorgung.

Auch die Ärztegewerkschaft Marburger Bund ist dagegen. Sie befürchtet, dass viele Patientinnen und Patienten nicht weitere Wege auf sich nähmen, sondern stattdessen in die Ambulanz des nächsten Krankenhauses gehen. Dann drohe dort eine Überforderung.

Ärztlicher Notdienst, Notfallpraxis, Notaufnahme - wann sollte ich wohin?

Wer außerhalb der regulären Sprechzeiten krank ist und keinen lebensbedrohlichen Notfall erleidet, ruft am besten beim Ärztlichen Bereitschaftsdienst an unter der 116117. Dort werden Ärztinnen und Ärzte in der Nähe ermittelt (Notfallpraxis) und bei Bedarf zu einem nach Hause geschickt (Ärztlicher Notdienst). Nur bei einem akuten Notfall ist die Notaufnahme in Krankenhäusern die erste Anlaufstelle, um eine Notfall-Erstbehandlung zu erhalten. Sie ist durchgehend geöffnet.

Hunderte Menschen protestieren gegen Schließungspläne

Gegen die Schließungspläne der KVBW hatte sich breiter Protest formiert - Ärzte, Landräte, Bürgermeister und Landtagsabgeordnete sind dabei. Hunderte Menschen demonstrierten unter anderem vor dem Gebäude der Kassenärztlichen Vereinigung in Stuttgart gegen das Vorhaben.

Als Grund für die geplante Schließung von 18 Notfallpraxen nannte die KVBW den Personalmangel unter niedergelassenen Ärzten. Man habe schlicht und einfach ein Personalproblem, sagte Karsten Braun, Vorstandsvorsitzender der KVBW. Wenn man die Versorgung im Land verantwortungsvoll aufrechterhalten wolle, müsse man sich auf die Regelversorgung fokussieren, also auf die normalen Praxen. "Wenn wir den Bereitschaftsdienst nicht anpassen, dann fahren wir die Regelversorgung im Land an die Wand. Das ist nun mal die Realität", so Braun.

Sendung am Di., 19.11.2024 6:00 Uhr, Radionachrichten SWR1/4 BW

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