Eine Frau im Frauenhaus (Symbolbild)

Baden-Württemberg "Das nächste Mal werde ich es nicht überleben"

Stand: 26.11.2024 11:06 Uhr

Sozialverbände fordern ein verbindliches Hilfesystem für Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt werden. Nur Anzeige zu erstatten, reicht oft nicht: So schildert es Dorothea L., eine mutmaßlich Betroffene.

Heute nennt sie ihn nur noch den "Täter": den Mann, mit dem Dorothea L. fast zwei Jahrzehnte lang verheiratet war, mit dem sie zwei Söhne hat. Die meisten Jahre ihrer Ehe waren von Gewalt geprägt, sagt sie: "psychische, körperliche und sexualisierte Gewalt".

Doch juristisch ist nicht geklärt, ob ihr Ex-Mann wirklich ein Täter ist. Er bestreitet die ihm vorgeworfenen Taten, hat gegen die Schilderungen der Vorwürfe durch seine Ex-Frau eine Unterlassungsklage eingereicht. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung.

Opfer sollten sich nicht schämen

Weil er über seine Ex-Frau identifiziert werden könnte, hat der SWR Dorothea L. in seiner Berichterstattung anonymisiert. Die 54-Jährige selbst hätte kein Problem damit, öffentlich über ihre Erfahrungen zu sprechen. "Die Täter müssen sich schämen", sagt sie: "Die Opfer müssen sich für gar nichts schämen."

Wie wir über den Fall berichten
Unsere Berichterstattung basiert auf den Schilderungen von Dorothea L. Die Staatsanwaltschaft hat dem SWR bestätigt, dass sie entschieden hat, keine Ermittlungen gegen Dorothea L.s Ex-Mann aufzunehmen. Die Begründung: Es handle sich lediglich um den Verdacht einer einfachen Körperverletzung, an dem Fall bestehe kein öffentliches Interesse. In solchen Fällen haben mutmaßliche Opfer nur die Möglichkeit einer Privatklage. Dafür muss vorher innerhalb von drei Monaten nach der mutmaßlichen Tat ein Strafantrag gestellt worden sein. Weil Dorothea L. erst dreieinhalb Monate nach dem letzten mutmaßlichen Übergriff Anzeige erstattete, hat sie diese Frist verpasst.

Dorothea L. zufolge hat ihr Mann schon kurz nach der Hochzeit begonnen, sie zu beleidigen, psychisch abzuwerten. Als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war, habe er sie immer wieder körperlich und auch sexualisiert angegriffen. "Am Ende der Schwangerschaft hatte ich einfach nur den Wunsch: Ich möchte bitte jetzt ein gesundes Kind auf die Welt bekommen", erzählt sie. Dorothea L.s zweiter Sohn ist 2006 geboren.

Ex-Mann sei wegen Nichtigkeiten ausgerastet

Dorothea L. sagt, vieles von dem, was ihr angetan worden sei, habe sie verdrängt: "Sonst kann man nicht existieren." Lange habe sie versucht sicherzustellen, dass ihre Kinder nichts mitbekommen. Doch ihr Mann sei immer wieder wegen Nichtigkeiten völlig ausgerastet. Später habe er auch die Söhne "körperlich misshandelt", sagt sie.

"Irgendwann ging es nicht mehr", sagt sie: "Irgendwann wollte ich nicht mehr." Sie begann, so sagt sie, "mehr Widerworte" zu geben. Das habe die Situation allerdings immer weiter zum Eskalieren gebracht, denn ihr Mann habe sie als seinen Besitz gesehen. "Der Besitz hat zu funktionieren, wie man will", erklärt sie: "Und wenn dieser Besitz das nicht mehr macht, dann wird das natürlich nicht einfach so hingenommen."

Mutmaßlicher Übergriff am Valentinstag

Über die sexualisierte Gewalt, die Dorothea L. ihren eigenen Angaben zufolge in ihrer Ehe erfahren hat, möchte sie nicht öffentlich sprechen. Mehrere körperliche Übergriffe hat sie dem SWR beschrieben. Der letzte geschah ihren Schilderungen zufolge am Valentinstag 2021. Danach habe sie sich gedacht: "Das nächste Mal wirst du es wahrscheinlich nicht überleben."

Doch anschließend habe ihr Mann sich erstmals einsichtig gezeigt, habe sich Hilfe gesucht, sei daraufhin sogar dem Rat gefolgt, aus dem gemeinsamen Haus auszuziehen. Die Staatsanwaltschaft sieht in diesem Verhalten "deutliche Anzeichen einer Unrechtseinsicht", schreibt sie in einer Mail an den SWR.

"Ich brauche Schutz"

Allerdings: Die Hausschlüssel habe er nicht abgeben wollen, sagt Dorothea L. Eines Tages sei er in ihrer Abwesenheit wieder ins Haus gekommen. "In dem Moment war für mich klar: Ich brauche Schutz", sagt sie.

Dorothea L. erstattete Anzeige, machte eine Aussage bei der Polizei, legte mögliche Beweismittel vor: ärztliche Atteste, Fotos, schriftliche Aussagen ihres Ehemanns. Von der Polizeibeamtin fühlte sie sich ernstgenommen; sie vermittelte ihr noch am selben Tag einen Kontakt zur Diakonie. "Die Gespräche mit der Mitarbeiterin der Diakonie waren rückwirkend gesehen für mich überlebenswichtig", sagt sie heute: So habe sie Schritt für Schritt gelernt, über das zu sprechen, was ihr ihren Angaben zufolge widerfahren ist.

Staatsanwaltschaft sieht kein öffentliches Interesse

Doch dann, einige Monate später, erhielt sie die Info, dass die Staatsanwaltschaft nicht gegen ihren Mann ermitteln werde (siehe Infokasten oben). "Ich habe gedacht, der Boden öffnet sich unter mir", beschreibt sie ihr Gefühl in diesem Moment.

Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft hat bei Dorothea L. Spuren hinterlassen: Sie fühlt sich dadurch erneut zum Opfer gemacht. Doch sie versucht, ihre Wut für etwas Positives zu nutzen: Sie unterstützt eine Initiative, die sich für die Umsetzung der sogenannten Istanbul-Konvention in Deutschland stark macht - damit andere Frauen künftig besser gegen Gewalt geschützt sind.

Was ist die Istanbul-Konvention?
Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention dazu verpflichtet, Frauen und Kinder besser gegen Gewalt zu schützen: durch einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung für die Betroffenen und einen flächendeckenden Ausbau des Hilfesystems, zum Beispiel durch Frauenhäuser.

Auch in Baden-Württemberg gibt es viel zu wenige Schutzräume für Frauen und Kinder, sogenannte "Frauenhäuser". Die grün-schwarze Landesregierung hat angekündigt, die Mittel dafür im Landeshaushalt um 2,5 Millionen Euro auf dann neun Millionen pro Jahr zu erhöhen. Sozialverbände sagen, dass die Investitionen bei Weitem nicht ausreichen, um den laut Istanbul-Konvention bestehenden Bedarf zu decken.

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