Ein Stapel mit Akten liegt auf einem Schreibtisch in einem Behördenbüro

Baden-Württemberg Experte im Interview: Lange Wartezeiten in Ämtern - was sich in der Verwaltung ändern muss

Stand: 22.08.2024 09:47 Uhr

Ob Einbürgerung oder Kfz-Anmeldung: Wer etwas von Behörden will, muss oft lange warten. Ein Verwaltungsexperte von der Hochschule Kehl erklärt, wie sich das Problem lösen ließe.

In Pforzheim herrscht seit Wochen Ärger über die Kfz-Zulassungsstelle: Bürger müssen extrem lange auf einen Termin warten - der dann häufig wieder gestrichen wird. Auch bei der Kfz-Zulassungsstelle in Stuttgart bilden sich oft lange Schlangen. Die Ausländerbehörde in der Landeshauptstadt ist seit Langem in der Kritik, weil manche monatelang auf dringende Unterlagen warten, um etwa eine Arbeit aufnehmen zu können.

Jüngstes Problem: Seit Ende Juni gilt das neue Staatsbürgerschaftsrecht - nun hat sich die Zahl der Anträge für einen deutschen Pass mindestens verdoppelt, schätzt der Städtetag Baden-Württemberg. Die Folge: Antragsteller müssen mitunter über ein Jahr warten.

Jörg Röber, Professor für Verwaltungsmanagement an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl, erklärt im Interview, woran es in den Ämtern hapert und welche Lösungsansätze er sieht.

SWR Aktuell: Die Zahl der Anträge auf Einbürgerung steigt stark, die Kommunen kommen mit der Bearbeitung nicht hinterher. Betroffene warten teils ein Jahr auf einen Termin. Herr Professor Röber, hat das einfach nur mit Personalknappheit zu tun?

Jörg Röber: Nein. Die generelle Überlastung in den Ämtern ist in der Regel nicht monokausal, sondern hat ein Bündel von Ursachen. Bei den Einbürgerungen kommt hinzu, dass sich hier die Rechtslage verändert hat: Zugewanderte können jetzt schneller einen deutschen Pass bekommen. Dadurch nehmen die Anträge zu, und das trifft auf den bereits bestehenden Personalmangel. Jeder Fall wird individuell geprüft, was aus guten Gründen richtig ist - aber das ist personalaufwendig.

SWR Aktuell: Der Flüchtlingsrat in Nordrhein-Westfalen hat vorgeschlagen, dass man Mitarbeitende aus anderen Behörden abordnen könnte, ähnlich wie in der Coronakrise, als Mitarbeitende in den Gesundheitsämtern aushalfen. Ist das ein vernünftiger Vorschlag oder verschiebt man so nur die Personallücken?

Röber: Es gibt sicherlich Verwaltungsbereiche, wo wir es uns leisten könnten, Ressourcen umzuziehen. Aber das hat viele Pferdefüße - Sie haben das schon skeptisch angemerkt. Es wird zunehmend schwieriger, überhaupt noch freie Kapazitäten zu finden. Außerdem stellt sich die Frage: Ist überhaupt die Kompetenz da? Bei der Nachverfolgung von Impfketten in der Coronakrise konnte man relativ leicht Mitarbeitende aus anderen Ämtern einsetzen. Um das per Telefon nachzufragen, war nicht viel Kompetenz notwendig. Bei komplexeren Aufgaben, die eine gewisse Ausbildung und Expertise erfordern, geht das aber nicht. Dazu zählt womöglich auch das Einbürgerungsverfahren.

SWR Aktuell: War es also falsch, das neue Staatsangehörigkeitsgesetz einzuführen, weil dadurch eine erhöhte Nachfrage geschaffen wurde, ohne dafür ausreichend Personal in den Ämtern vor Ort zu haben?

Röber: Das Gesetz ist eine politische Entscheidung. Da kann man dafür oder dagegen sein, das ist nicht die Frage. Sondern: Wie führt man solche Gesetze so ein, dass sie in der Umsetzung funktionieren - insbesondere dann, wenn wir es wie hier mit einer Rechtssituation zu tun haben, die auf der kommunalen Ebene, in den Landkreisämtern oder den kreisfreien großen Städten umgesetzt werden muss? Da braucht es von Bund und Land mehr Rücksichtnahme und eine bessere Abstimmung mit den Kommunen. Das sprechen auch Städtetag oder Landkreistag immer wieder an. 

SWR Aktuell: Der Personalmangel wird sich in den nächsten Jahren noch verschärfen, wenn viele Mitarbeitende in den Ruhestand gehen. Was heißt das für die öffentliche Verwaltung?

Röber: Wir müssen deutlich mehr Werbung für den öffentlichen Dienst machen. Das merken wir auch in unserem Studiengang Verwaltungsmanagement an der Hochschule Kehl. Auf dem Arbeitsmarkt konkurriert die öffentliche Verwaltung mit anderen Branchen, die für Bewerberinnen und Bewerber deutlich attraktiver sind, auch in der Gehaltszahlung. Nehmen Sie zum Beispiel einen Systemadministrator. In einer mittelgroßen Kommune mit 60.000 bis 70.000 Einwohnern muss er so um die 60 Fachverfahren betreuen. In einem mittelständischen Betrieb mit 100 bis 300 Mitarbeitern sind es vielleicht 10 oder 20 Fachverfahren. Dort verdient er aber deutlich besser. Wie will man eine solche Fachkraft für den öffentlichen Dienst gewinnen? Soll man ihm sagen: "Hey, du tust Gutes für die Gemeinschaft, das ist den gewaltigen Gehaltsunterschied wert"?

Auf dem Arbeitsmarkt konkurriert die öffentliche Verwaltung mit anderen Branchen, die für Bewerberinnen und Bewerber deutlich attraktiver sind, auch in der Gehaltszahlung.

Das heißt: Die öffentliche Verwaltung muss attraktiver werden, damit sie noch bessere Mitarbeitende für immer komplexere Aufgaben gewinnen kann. Dafür braucht es gute Arbeitsbedingungen und eine angemessene Bezahlung. Da gibt es noch viel zu tun.

SWR Aktuell: Würden sich die Aufgaben mit dem vorhandenen Personal schneller erledigen lassen, wenn man Strukturen und Abläufe vereinfachen würde?

Röber: Die Regulierung nimmt ja eher zu als ab. In Baden-Württemberg hat man jetzt - Gott sei Dank - wieder damit angefangen, Normen zu kontrollieren, zu vereinfachen und zu reduzieren. Aber unter dem Strich verdichtet sich die Arbeit in den Ämtern und wird anspruchsvoller. Und gleichzeitig finden wir nicht genügend junge Leute, die diese Aufgaben wahrnehmen. Wichtig ist, die Digitalisierung konsequent voranzutreiben, um noch effizienter zu werden. Es sollten vor allem hochstandardisierte Prozesse digitalisiert werden. Oder solche, bei denen aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen die Gestaltungsspielräume gering sind. Die Grundlage dafür ist, die E-Akte in den Kommunen in Baden-Württemberg flächendeckend einzuführen.

SWR Aktuell: Muss Digitalisierung nicht mehr sein als nur die digitale Abbildung aufwendiger analoger Prozesse?

Röber: Klar, es ist eine Binsenweisheit, dass schlechte analoge Prozesse auch schlechte digitale Prozesse abgeben. Im Idealfall sollte man nicht nur die Prozesse besser strukturieren, sondern auch eine optimale Organisationsstruktur schaffen. Das heißt: vor allem in der Kommunalverwaltung die bestehenden Silos aufbrechen.

Natürlich würde ich mich freuen, wenn wir wie in Estland eine Verwaltung hätten mit nur einer ID (Anmerkung der Redaktion: Gemeint ist eine digitale Identifikationsnummer als Zugang zu digitalen Behördendiensten). Wo man nur noch dann aufs Amt muss und Unterschriften nur noch dann geleistet werden müssen, wenn es wirklich notwendig ist. Aber das ist ein weiter Weg. Wir müssen jetzt vom Fleck kommen und die Probleme zügig lösen. Dafür würde ich eine mechanische Digitalisierung empfehlen. Mit standardisierten Lösungen, um das "Massengeschäft", wo die langen Wartezeiten bestehen, schnell abarbeiten zu können.

"Informatisieren" statt digitalisieren

Zur digitalen Transformation in der öffentlichen Verwaltung forscht auch Alois Paulin, Professor an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg. Er kritisiert, dass in der öffentlichen Verwaltung alte Prozesse mit ihrem Ablauf von Schritten lediglich digitalisiert würden. "Zum Beispiel können Bürger jetzt einen Termin digital buchen - das bürokratische Prinzip bleibt aber dasselbe. Prozesse werden immer noch als eine Kette von Schritten gedacht, die nacheinander durchlaufen werden müssen", sagt Paulin im Gespräch mit dem SWR. Sein Gegenvorschlag: nicht digitalisieren, sondern "informatisieren". Damit meint er: "überlegen, welches Ziel eigentlich erreicht werden soll und was man tun kann, damit es die Bürger selbst erreichen können." Als Beispiel beschreibt Paulin eingescannte Unterlagen: In einem rein digitalisierten Verfahren müssten die Scans weiterhin von Menschen eingepflegt und gelesen werden, was Zeit koste und fehleranfällig sei. "Im 'informatisierten' Kontext haben wir maschinenlesbare Dokumente, die online verfügbar sind und vom Bürger selbst in maschinenlesbare Anträge eingepflegt werden können", so der promovierte Informatiker. Solche Anträge könnten dann vollautomatisiert verarbeitet werden. Der Staat müsse Freiräume schaffen, in denen die Verwaltung Prozesse komplett neu denken sowie Innovationen entwickeln und ausprobieren könne. "Und wenn sie sich bewähren, kann man sie übernehmen. Das ist natürlich nichts, was die aktuellen Probleme in den Ämtern in wenigen Monaten löst", sagt Paulin. "Aber die öffentliche Verwaltung wird ihre Strukturen und Prozesse auf jeden Fall so aufräumen müssen. Dafür muss man Menschen mit den notwendigen Fähigkeiten ausstatten, damit sie Systeme bauen und programmieren können."

SWR Aktuell: Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass sich zügig etwas verbessert?

Röber: Verwaltung ist ein Riesentanker. Die Forderung aus der Wirtschaft, alles müsse sofort anders werden, ist unrealistisch. Aber man muss die Verwaltung konsequent Schritt für Schritt verbessern. Die Kommunen tauschen sich dazu untereinander bereits gut aus. Das kann man weiter stärken. Das Land Baden-Württemberg kann bei der Digitalisierung der Verwaltung sicherlich noch mehr tun. Es geht langsam voran, aber ich bin optimistisch, dass wir in den nächsten zehn Jahren weit kommen werden. Vielleicht nicht mit 100-prozentig perfekten Lösungen, aber mit zufriedenstellenden.

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