Protest gegen die Schließungen von 18 Notfallpraxen in BW am 21. Oktober 2024 in Stuttgart
Player: audioKirchhheims OB Pascal Bader zur Entscheidung in Sachen Notfallpraxis

Baden-Württemberg Region Stuttgart: In Kirchheim/Teck schließt die erste Notfallpraxis

Stand: 27.03.2025 16:38 Uhr

Wer zukünftig am Wochenende oder in Randzeiten einen medizinischen Notfall hat, muss sich im Kreis Esslingen und bald auch woanders in der Region auf längere Fahrt- und Wartezeiten einstellen.

Die Notfallpraxis in Kirchheim unter Teck (Kreis Esslingen) muss zum 31. März schließen. Sie ist damit eine der ersten im Land. Zusammen mit zwei weiteren Kommunen hatte die Stadt Kirchheim dies noch vor Gericht zu verhindern versucht, das Eilverfahren scheiterte aber.

Klage gescheitert: Kirchheims OB ist enttäuscht

"Das ist natürlich enttäuschend", so Kirchheims Oberbürgermeister Pascal Bader (parteilos). Es bleibe noch, Beschwerde einzulegen, wegen der geringen Erfolgschancen lasse Kirchheim das aber bleiben. Bader findet jedoch gut, dass sich das Sozialgericht ausführlich mit der Frage beschäftigt hat, ob die Kommunen an den Umstrukturierungs- und Schließungsplänen der Kassenärztlichen Vereinigung BW hätten beteiligt werden müssen.

Schließung von Notfallpraxen: Darum geht es
Bis Ende November 2025 schließen nach und nach insgesamt 18 Notfallpraxen in Baden-Württemberg. Das hatte die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) im Oktober 2024 bekanntgegeben. Als Grund dafür wurde der Ärztemangel genannt. 95 Prozent der Menschen sollen nach den Plänen der KVBW eine Notfallpraxis in maximal 30 Autominuten erreichen können. Alle anderen sollen maximal 45 Minuten fahren müssen. Zudem sei vorgesehen, dass es nur noch Standorte in Verbindung mit einem Krankenhaus mit Notaufnahme gebe. Als Ersatz für die wegfallenden Standorte sollen die bleibenden Praxen gestärkt werden. Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) hält das Reformkonzept der KVBW für sinnvoll. Acht Praxen wurden bereits im Laufe des vergangenen Jahres dauerhaft geschlossen. In der Region Stuttgart sind von den Schließungen jetzt die Standorte Kirchheim unter Teck (Kreis Esslingen), Backnang (Rems-Murr-Kreis) und Herrenberg (Kreis Böblingen) betroffen. Gegen die Schließungspläne gab es überall an den Standorten massive Proteste, auch von Bürgerinnen und Bürgern, beispielsweise in Herrenberg (Kreis Böblingen) und Ende Oktober 2024 zentral in Stuttgart. Die Kommunen kritisieren in erster Linie, dass sie bei den Planungen der KVBW nicht eingebunden und ihnen teilweise falsche Versprechungen gemacht wurden. Experten und Gegner der Schließungen befürchten, dass diese massive Auswirkungen auf die Notaufnahmen der Krankenhäuser haben, da Patientinnen und Patienten bei akuten Beschwerden am Wochenende und in den Randzeiten dann dorthin gingen. Erste Erhebungen aus dem Neckar-Odenwald-Kreis bestätigen diese Annahme. Personal in Notaufnahmen und den verbleibenden Bereitschaftspraxen - wie sie für den Notfall richtigerweise heißen - war aber auch schon zuvor durch den Fachärzte- und Hausärztemangel stärker belastet. Beispielsweise ist 2023 die HNO-Notfallversorgung an mehreren Stellen in der Region Stuttgart beendet worden.

"Das Gericht ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es keine formelle Rechtslage für eine Beteiligung der Kommunen gibt", so Bader. "Das heißt aber auch: Es gibt bisher keine andere Rechtsprechung dazu." Deswegen blickt er dennoch einigermaßen optimistisch nach vorn und hofft jetzt auf das Hauptverfahren, das noch am Sozialgericht anhängig ist. Hier klagen 13 der 18 betroffenen Kommunen gegen die Schließungen. Das kann demnach völlig anders ausgehen als das Eilverfahren. Eine vergleichbare Lage hat das Sozialgericht zuvor noch nie beurteilen müssen.

Kommunen wollen weiter politisch Druck machen

"Zudem werden wir weiterhin politisch Druck ausüben", sagt Bader. Denn schon jetzt zeigten Zahlen aus Landstrichen, wo Notfallpraxen bereits geschlossen wurden, dass durchaus schneller der Rettungsdienst gerufen wird. "Das führt dazu, dass unser Notfallsystem langfristig teurer wird. Und auch der Ansturm auf die zentrale Notaufnahme in Krankenhäusern wird zunehmen."

Darauf stellen sich direkt ab kommendem Dienstag die Medius-Kliniken Nürtingen ein, an deren Standort Kirchheim/Teck die Räumlichkeiten für die Notfallpraxis seither vermietet wurden. "Wir bedauern die Schließung der Notfallpraxis", sagt Jörg Sagasser, Geschäftsführer der Medius-Kliniken. "Wir haben aber leider keinerlei Einfluss auf die Zuständigkeit."

Geschäftsführer Medius-Kliniken: "Personal bereits am Limit"

Man werde jetzt die Patientinnen und Patienten informieren und breit kommunizieren, dass sie in die Notfallpraxis nach Nürtingen oder gegebenenfalls sogar Esslingen fahren sollen, um nicht die Notaufnahme des Krankenhauses zusätzlich zu belasten. "Wir haben die große Sorge, dass die Patienten und Patientinnen nicht diese 15 Minuten längere Fahrt nach Nürtingen auf sich nehmen, sondern in die Notaufnahme unserer Klinik kommen. Dort arbeitet unser Personal aber bereits am Limit", so Sagasser. Er appelliert an die Menschen, im akuten Notfall besonnen zu handeln und nicht ins Krankenhaus zu gehen, wenn es zu vermeiden ist.

"15 Minuten länger fahren geht ja noch, aber in Oberschwaben oder im Kreis Böblingen sieht es schon dramatischer aus", sagt Florian Wahl. "Wenn die Notfallpraxis in Herrenberg geschlossen wird, müssen die Leute im Akutfall nach Böblingen oder Tübingen, da fährt man länger." In einer alternden Gesellschaft seien solche Lücken in der Gesundheitsversorgung nicht hinnehmbar, viele hätten ja auch gar kein Auto. Wahl ist Landtagsabgeordneter für die SPD, sein Wahlkreis ist Böblingen, wo er auch im Kreistag sitzt. Zudem ist er gesundheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion im Landtag. Die Schließung der Notfallpraxen beschäftigt ihn seit dem letztem Jahr also auf Landesebene und ganz konkret vor der Haustür durch die Schließung in Herrenberg.

Wie Bader und Sagasser macht Wahl vor allem die Belastung der Notaufnahmen zu schaffen. "Die Pläne bedeuten: In anderthalb Jahren werden 30 Prozent der Notfallpraxen in Baden-Württemberg geschlossen." Von Erhebungen zu bereits geschlossenen Standorten wisse man, dass die Nutzungszahlen in Notaufnahmen um 30 Prozent gestiegen seien und dies auch 30 Prozent längere Wartezeiten bedeute. Neben der größeren Belastung für das Personal habe das auch massive Auswirkungen für die Landkreise. Wahl nennt das Beispiel Böblingen, wo die Kliniken vom Klinikverbund Südwest betrieben werden, den wiederum die Kreise Böblingen und Calw tragen: "Wenn die Notfallpraxen in Herrenberg und Nagold im Kreis Calw geschlossen werden, gibt es ein zusätzliches Defizit von 1,5 Millionen Euro pro Jahr für den Klinikverbund."

Nach Ansicht von Wahl führt auch die Art und Weise, wie die Schließungen geplant wurden, zu einem Vertrauensverlust in die Kassenärztliche Vereinigung und in Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne). "Die Menschen haben sich vorher schon ganz große Sorgen um die medizinische Versorgung gemacht", so Wahl.

Rems-Murr-Kreis wollte alternative Struktur schaffen

Im Rems-Murr-Kreis, wo die Notfallpraxis in Schorndorf bereits 2023 geschlossen wurde, hatte man noch Alternativen versucht, um die Schließung der Notfallpraxis in Backnang Ende Juni etwas zu kompensieren. Zusammen mit der Kreisärzteschaft, den Rettungsdiensten und weiteren Akteuren in der Gesundheitsversorgung wurde im Herbst vergangenen Jahres von den Rems-Murr-Kliniken und dem Gesundheitsamt ein "Konzept Gesundheitspunkte" erarbeitet. Dieses wurde vom Kreistag gebilligt. Es sah Maßnahmen vor, um die akut-medizinische Versorgung in der Fläche zu sichern. Dazu hätten die Gesundheitszentren in Backnang, Schorndorf und Winnenden eingebunden werden sollen, die der Landkreis bereits unterhält. Auch die Einbindung von Telemedizin war angedacht.

Unter anderem sollten Angebote gebündelt, dafür aber andere Beratungsangebote oder die Begleitung von Patientinnen und Patienten vom eigentlichen medizinischen Geschäft getrennt werden. Sogenannte Patientenlotsen sollten dem Plan nach begleiten und schnell Termine oder Hilfsangebote an der richtigen Stelle vermitteln. Dadurch sollten die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte entlastet sowie eine Überlastung der Notaufnahmen in Winnenden und Schorndorf vermieden werden. Auch sei bereits mit Stiftungen die Finanzierung besprochen worden; laut Landratsamt habe es auch schon konkrete Finanzierungszusagen gegeben. Am Montag gab Landrat Richard Sigel (parteilos) bekannt, dass das Konzept der "Gesundheitspunkte" gescheitert sei.

Rems-Murr: Landrat Sigel appelliert an neue Bundesregierung

"Leider haben wir es nicht alleine in der Hand. Eine Entlastung der Ärzteschaft durch praktikable Lösungen scheint nicht gewollt", so Sigel. Zudem stünden aufgrund der unklaren Rechtslage Haftungsrisiken im Raum, die eine Umsetzung aus Sicht der KVBW nicht zuließen - und die Umsetzung damit auch für den Landkreis unmöglich machten. "Die Enttäuschung bei allen Beteiligten ist riesengroß." Deswegen appelliert Sigel an die neue Bundesregierung, für alternative Konzepte einen Rechtsrahmen zu schaffen.

Es müsse möglich sein, neue Wege in der Gesundheitsversorgung zu gehen. SPD-Politiker Florian Wahl sieht auch auf Landesebene schon Stellschrauben: "Es ist seit Jahren versäumt worden, die gesamte gesundheitliche Versorgung in Baden-Württemberg aktiv anzupassen und dem Ärztemangel entgegenzusteuern, wie andere Länder es getan haben." Deswegen sei neben der Kassenärztlichen Vereinigung auch weiterhin das Land in die Pflicht zu nehmen.

Sendung am Mi., 26.3.2025 14:00 Uhr, SWR4 am Nachmittag, SWR4

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