Ein Archivbild aus dem Jahr 2016 zeigt Beate Zschäpe

Bayern Verkürzte Haft? Zschäpe will in Neonazi-Aussteigerprogramm

Stand: 11.07.2024 05:10 Uhr

Vor sechs Jahren wurde die NSU-Terroristin Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt. Nun versucht sie, in ein Neonazi-Aussteigerprogramm aufgenommen zu werden. Hinterbliebene der Mordopfer vermuten dahinter reine Taktik – und kritisieren die Behörden.

Von Thies Marsen

Lebenslänglich – das bedeutet in Deutschland bekanntlich nicht, dass ein Verurteilter für immer hinter Gittern bleiben muss. Gemeinhin wird nach 15 Jahren geprüft, ob eine vorzeitige Haftentlassung in Frage kommt. Beate Zschäpe ist vom Oberlandesgericht München zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Auch wenn sie nie selbst geschossen habe, sei sie mitverantwortlich für die zehn Morde des NSU, darunter fünf rassistische Morde in München und Nürnberg.

Besondere Schwere der Schuld

In seinem Urteil vom 11. Juli 2018 hat das Münchner Oberlandesgericht der Neonazi-Terroristin aber zusätzlich eine besondere Schwere der Schuld attestiert. Damit ist eine vorzeitige Haftentlassung nach 15 Jahren ausgeschlossen. Allerdings kann das Gericht in einem solchen Fall nach 15 Jahren eine sogenannte Mindestverbüßungsdauer festlegen. Erst wenn diese dann abgelaufen ist, kann erstmals ein Antrag auf vorzeitige Haftentlassung gestellt werden.

Beate Zschäpe hat sich im November 2011 der Polizei gestellt. Das war wenige Tage, nachdem die beiden NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem gescheiterten Bankraub in Eisenach Suizid verübt hatten. Seither sitzt sie in Haft. Die Untersuchungshaft wird auf die Haftdauer angerechnet. Das bedeutet, dass das Oberlandesgericht frühestens im November 2026 über die Mindestverbüßungsdauer der Rechtsterroristin entscheiden kann.

Neue Aussagen und neue Ermittlungen

Bis dahin versucht die 49-Jährige offenbar Pluspunkte zu sammeln, um eine bald mögliche Haftentlassung zu erreichen. So hat sie etwa im Mai 2023 umfassend vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags ausgesagt und dabei auch erstmalig mündlich Fragen beantwortet. Diese Aussage nahm dann das Bundeskriminalamt (BKA) zum Anlass, Zschäpe vorzuladen.

Laut ihrem Rechtsanwalt wurde sie im vergangenen Jahr fünf Tage lang vom BKA verhört. Ihre Aussage hat einerseits zu einer erneuten Anklageerhebung im NSU-Komplex geführt – so muss sich demnächst die mutmaßliche Terrorhelferin Susann E., die eng mit Zschäpe befreundet war, vor Gericht verantworten. Andererseits berichtete der "Spiegel" von neuen Ermittlungen sowie einer Hausdurchsuchung in der Schweiz, weil Zschäpe offenbar ausgesagt hat, dass NSU-Terrorist Uwe Mundlos dort eine Freundin gehabt haben soll.

Zschäpes Auskunftsfreude – reine Taktik?

Im Münchner NSU-Prozess hatte Zschäpe fünf Jahre lang weitgehend geschwiegen beziehungsweise sich nur schriftlich geäußert – warum ist sie plötzlich so auskunftsfreudig? Ihr Anwalt Mathias Grasel räumt auf BR-Anfrage ein, dass dabei auch die bevorstehende Festlegung der Mindestverbüßungsdauer eine Rolle spielt. "Bei dieser Entscheidung werden diverse Faktoren zu berücksichtigen sein, so etwa auch Reue, Schuldeinsicht, Verhalten während der bisherigen Haftzeit, etc.", teilte Grasel dem BR schriftlich mit. Er bestätigt außerdem, dass Zschäpe kurz davorstehe, in ein Aussteigerprogramm für Neonazis aufgenommen zu werden.

Bereits im vergangenen Jahr hatte die Rechtsterroristin Kontakt zum Aussteigerprogramm des Freistaats Sachsen geknüpft. Dort wollte man Zschäpe aber schließlich doch nicht aufnehmen – im Gegensatz zu ihrem Mitangeklagten im NSU-Prozess André E., dessen Aufnahme in das Programm bei Hinterbliebenen der NSU-Mordopfer für Entsetzen und Unverständnis gesorgt hatte.

Ein Ausstieg mit Fragezeichen

Inzwischen aber haben Zschäpe und ihr Anwalt offenbar ein anderes Aussteigerprogramm ausfindig gemacht, das bereit ist, die Terroristin aufzunehmen. Es gebe einen "vielversprechenden Kontakt", so Anwalt Mathias Grasel, "wobei ich Ihnen derzeit keine weiteren Informationen hierzu geben kann, da Vertraulichkeit von beiden Seiten zugesichert wurde". Eine Aufnahme Zschäpes in ein solches Programm könne jedenfalls "ein positiver Faktor" bei der anstehenden Festlegung der Mindestverbüßungsdauer sein, so Grasel.

Die offenen Fragen bleiben unbeantwortet

Hinterbliebene der NSU-Mordopfer sehen die jüngsten Entwicklungen im Fall Zschäpe mit großer Skepsis. Man könne zwar nicht ausschließen, dass die Terroristin tatsächlich mit der rechten Szene abschließen wolle, sagt Sebastian Scharmer, Anwalt der Familie des Dortmunder NSU-Opfers Mehmet Kubaşık. Eine wirkliche Aussteigerin wäre Zschäpe jedoch nur, wenn sie umfangreiche Aussagen machen würde. "Und zwar nicht nur zu einzelnen Personen, die ohnehin schon bekannt sind und deren Tathandlungen sowieso schon Thema im Prozess und in den Untersuchungsausschüssen waren, sondern eben auch zu bislang unbekannten Tatbeteiligten."

Offene Fragen gibt es im NSU-Komplex jedenfalls weiterhin viele. Noch immer ist zum Beispiel unklar, woher der NSU seine zahlreichen Waffen hatte. Besonders drängend für die Familie der Opfer ist die Frage, wie der NSU seine Opfer ausgewählt hat und inwiefern der NSU an den jeweiligen Tatorten - also etwa in Dortmund, Nürnberg oder München - Helfer hatte, die zum Beispiel die Mordopfer ausspioniert haben.

Hinterbliebene wurden nicht informiert

Höchst kritisch sehen die Hinterbliebenen auch das Verhalten der staatlichen Behörden. Dass Beate Zschäpe vor den Beamten des Bundeskriminalamtes ausgesagt und es daraufhin neue Ermittlungen gegeben hat, habe man erst aus den Medien erfahren, kritisiert Anwältin Seda Başay-Yıldız, die die Familie des Nürnberger NSU-Opfers Enver Şimşek vertritt. "Ich habe daraufhin schon im März den Generalbundesanwalt um ein Informationsgespräch gebeten – das wurde damals abgelehnt. Wir haben nach den neuesten Berichten jetzt noch einmal nachgehakt und darauf haben wir noch nicht einmal eine Antwort bekommen."

Noch deutlicher wird Gamze Kubaşık, die Tochter des Dortmunder Mordopfers Mehmet Kubaşık: "Uns Familien ist es bewusst, dass wir mit Absicht so wie im NSU-Prozess, aber auch danach seit Jahren keine Informationen bekommen. Warum das so ist, wissen wir nicht, aber wir können es uns denken." Schon lange vermuten die Hinterbliebenen, dass die Behörden das staatliche Versagen und die Verwicklungen der Geheimdienste in den NSU-Komplex vertuschen wollen.

Während hochrangige Politiker bis hin zur früheren Kanzlerin Angela Merkel öffentlich eine umfassende Aufklärung der Terrorserie versprochen hatten, hatte die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer im NSU-Prozess offen davon gesprochen, dass es eines ihrer wichtigsten Ziele sei, dass das Vertrauen in den Staat und seine Behörden nicht untergraben werde.

Das Staatsversagen im NSU-Komplex

Für die Hinterbliebenen der NSU-Morde reiht sich das aktuelle Verhalten der Bundesanwaltschaft ein in das jahrelange Versagen von Polizei, Geheimdiensten und Justiz im Fall NSU. Die Sicherheitskräfte verdächtigten jahrelang die Opferfamilien, diese wurden stigmatisiert und ausgegrenzt. Hinweisen auf politische Hintergründe der Taten wurde nicht nachgegangen. Eine Entschuldigung für dieses offenkundige Versagen gab es nie.

Dass Beate Zschäpe nun auch noch möglicherweise in ein staatliches Aussteigerprogramm aufgenommen wird, um so ihre Haftzeit zu verkürzen, ist für Hinterbliebene schwer erträglich. Zudem weigert sich die Neonazi-Terroristin weiterhin, den Hinterbliebenen Rede und Antwort zu stehen. Durch ihre Aussagen vor dem bayerischen NSU-Untersuchungsausschuss und dem BKA habe Zschäpe "ihren staatsbürgerlichen Verpflichtungen" Genüge getan, sagt ihr Anwalt Mathias Grasel. Sie sei aber nach wie vor nicht bereit, mit Nebenklägern - also mit den Hinterbliebenen - zu sprechen.

"Ich werde weiterkämpfen, bis alle Mörder verurteilt sind"

Nebenklage-Anwalt Sebastian Scharmer glaubt deshalb nicht daran, dass sich Zschäpe wirklich aus der Neonaziszene gelöst hat. Auch seine Mandantin Gamze Kubaşık, deren Vater Mehmet im April 2006 in seinem Dortmunder Kiosk erschossen wurde, bezweifelt das. Sie hatte Zschäpe im NSU-Prozess noch ausdrücklich angeboten, ihr zu helfen, vorzeitig aus der Haft freizukommen – falls sie die drängenden Fragen der Angehörigen beantwortet.

Solange dies nicht geschehen ist, könne sie mit dem Mord an ihrem Vater nicht abschließen, so Gamze Kubaşık zum BR: "Ich beschäftige mich jeden Tag mit der Frage, ob man die Tat an meinem Vater hätte verhindern können, wer die Unterstützer und Helfer in Dortmund waren, was der Verfassungsschutz wusste und was uns Familien verheimlicht wird. Ich werde so lange weiterkämpfen, bis all die Mörder meines Vaters - und nicht nur diejenigen, die geschossen haben - verurteilt werden."

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Quelle: Bayern 2 Die Welt am Morgen 10.07.2024 - 06:00 Uhr