Berlin 35 Jahre Mauerfall: "Die DDR konnte mit solch einer Subkultur nicht klarkommen"
Vor 35 Jahren fiel die Berliner Mauer. Historiker Daniel Küchenmeister blickt im Interview auf den Einfluss der Teilung und Wiedervereinigung auf den Fußball, seine Fankultur und Vereine als Lernorte von Demokratie.
rbb|24: Herr Küchenmeister, was hat der 13. August 1961, die Abriegelung der Sektorengrenze, mit dem Fußball in Berlin gemacht?
Daniel Küchenmeister: Ich würde ganz bewusst sogar vorher beginnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnete sich die Spaltung Berlins schon sehr bald ab. Das hinterließ natürlich auch Spuren im Sport, sowohl im großen Fußball der Spitzenmannschaften, als auch im breiten Amateurbereich. Es gab zahlreiche Traditionsvereine aus dem Osten, die in jener Zeit – also am Beginn der 1950er Jahre, als die Spaltung sichtbarer wurde – langsam ausbluteten.
Es gab beispielsweise den im Prenzlauer Berg gegründeten Verein "WFC Corso 99", der es durchaus zu bemerkenswerter Stabilität und Erfolgen gebracht hatte. Als zwischen 1948 und 1950 der Druck auf die wiedergegründeten Sportgemeinschaften immer größer wurde, sich den sozialistischen Prinzipien zu unterwerfen – beispielsweise sich den Betriebssportmannschaften anzuschließen – ging ein erheblicher Teil der Spieler, obwohl sie im Osten lebten, in den Westen, um dort ungestört und frei Fußball spielen zu können.
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Was passierte mit dem Verein?
So kommen wir zum Mauerfall. Dieser Verein, der nun im Westen beheimatet war, wurde am 13. August 1961 schwer getroffen – die Mitgliedschaft wurde zerrissen. Die in Ost-Berlin noch lebenden Spieler konnten natürlich nicht mehr rüber. Der WSC Corso, der heute Corso Vineta heißt und im Wedding beheimatet ist, war das ein großer Verlust – sportlich wie menschlich. Der WSC Corso steht damit exemplarisch dafür, wie stark die Teilung der Stadt auch den Amateurfußball traf. Es war eine Alltagserfahrung für die gesamte Gesellschaft, für die Sportler in Ost- und in West-Berlin.
Wie war es für Fußballfans, plötzlich durch eine Mauer – ob als Spieler oder Fan - von ihrem Verein getrennt zu sein?
Das war natürlich eine Katastrophe. Durch den Bau den Mauer war es beispielsweise vielen Ost-Fans von Hertha BSC, das damals ja im Westen im Stadion an der "Plumpe" spielte, nicht mehr möglich, die Spiele ihres Vereins zu besuchen. Anfangs war es – gerade im Prenzlauer Berg – möglich, durch die geographische Nähe der "Plumpe" zu Ost-Berlin, dass die Fans sich möglichst nahe an die Grenze stellten und den Hertha-Spielen zuhörten. Als erfahrener Fußballfan war es möglich, die Laute aus dem Stadion zu deuten und so das Spiel zu verfolgen. Die Menschen haben in jenen Momenten Gemeinschaft erlebt.
Gab es Anstrengungen, trotz Mauer ins Stadion des Lieblingsvereins zu kommen?
In diesem Zusammenhang würde ich von zwei Möglichkeiten berichten. Die eine Möglichkeit war, dass Fußballfans in der DDR Ende der 1960er beginnend und in den 1970er Jahren zunehmend in den Osten fuhren, um ihre West-Mannschaft spielen zu sehen. Die international spielenden Bundesliga-Vereine waren durch den europäischen Spielbetrieb beispielsweise in Prag, Budapest oder Warschau zu erleben. So reisten die DDR-Fans nicht in den Westen, aber um ihre Lieblingsmannschaft aus dem Westen zu sehen, sondern in den Osten. Ein aus heutiger Perspektive nahezu widersinnig erscheinender Vorgang, aber das war ihre Möglichkeit, ihre Mannschaft zu erleben. Dadurch haben sich auch Fanfreundschaften zwischen ost- und westdeutschen Fans entwickelt. Mit der Zeit haben aber staatliche Organe wie die Stasi Wind davon bekommen und die Vorgänge mit großem Aufwand dokumentiert. So sind Fußballfans, die eigentlich nicht politisch waren, mit dem System aneinandergeraten und wurden in gewissem Sinne politisiert.
Was war die zweite Möglichkeit?
Das waren die Ausreiseanträge, die vor allem in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre enorm anstiegen. Das war eine Möglichkeit, die DDR zu verlassen. Ich selber kenne Menschen aus dem Umfeld von Union Berlin, die in den 1980er Jahren nach West-Berlin übergesiedelt waren und sich dort Hertha BSC anschlossen. Als die Mauer am 9. November 1989 gefallen war, wendeten sich sie in den 1990er Jahren wieder Union zu.
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Gab es große Unterschiede in der Fankultur zwischen Ost und West? War das auch an das jeweilige politische System gekoppelt?
Selbstverständlich. Wenn ich in einem Staat wie der DDR lebe, wo in letzter Instanz alles politisch ist oder gewertet wird, stellt sich die Fanszene natürlich anders dar. Sie muss sich auf einen Staat einstellen, der sie aufmerksam und argwöhnisch beobachtet. Die Fanszene im Westen hatte ganz andere Möglichkeiten, ob in der eigenen Kommunikation oder der Möglichkeit, selbstbestimmte Vereine zu organisieren. In der DDR wurden Fußballfans von der SED als "negativ-dekadent" eingeschätzt, weshalb sie oft Repressionen ausgesetzt waren. Sie wurden vom Staat als "unakzeptabel" wahrgenommen, weil sie eigene Transparente bastelten und eigene Fanklamotten nähten. Das konnte man nicht steuern, die DDR konnte mit solch einer Subkultur nicht klarkommen. Das prägt eine Fankultur in der DDR stark. Alle Versuche der SED, in den 1980er Jahren dieses Phänomen durch offiziell anerkannte Fanklubs zu kanalisieren, scheiterten.
Inwieweit hat das jeweilige politische System Einfluss auf die Fußballvereine genommen?
Die Vereine zwischen Ost und West haben sich himmelweit unterschieden. Es gab in der DDR eine Reihe von Vereinen, die mit einigem Erfolg ihre Unabhängigkeit bewahrten, – zum Beispiel die VSG Altglienicke – aber die meisten waren als Betriebssportgemeinschaft an Betriebe gekoppelt. Damit waren sie abhängig. Die Betriebe nahmen natürlich Einfluss und konnten jederzeit die Unterstützung des Fußballs beenden. Sobald der sogenannte Trägerbetrieb das Interesse verlor, bekamen die Mannschaften große Schwierigkeiten.
Im Westen Berlins und der Bundesrepublik organisierten sich die Vereine gemäß dem Vereinsrecht und hatten die Möglichkeit, sich über Mitgliederbeiträge und Sponsoren zu entwickeln. Auf beiden Plätzen rollte der Ball, doch gesellschaftlich war die Basis von Ost- und West-Vereinen grundlegend verschieden.
Der Sportverein war zwischen 1989 und den frühen 1990er Jahren ein wichtiger Lernort von Demokratie.
Mit Union Berlin und dem 1. FC Magdeburg gibt es derzeit nur zwei Ostvereine mit einer DDR-Historie in den obersten zwei Profi-Ligen. Ein Resultat dieser unterschiedlichen Strukturen während der Mauerzeit?
1990 brachen die Strukturen des DDR-Sports wie die DDR-Gesellschaft insgesamt zusammen. Jetzt lösten sich die Trägerbetriebe auf oder gingen in Firmen aus dem Westen auf. Die Mannschaften im Osten mussten sich nun in einem völlig neuen Umfeld handeln und bewähren. Hierbei spielte die wirtschaftliche Kraft der Regionen eine entscheidende Rolle. Berlin und Umland bietet zum Beispiel Union Berlin mit einer Bevölkerung von mehr als vier Millionen Menschen und zahlreichen leistungsstarken Firmen solide Voraussetzungen und Perspektive. Magdeburg musste einen langen Weg gehen, der sich in den kommenden Jahren vielleicht verstetigt.
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Wie hat sich die Wiedervereinigung auf den Berliner Fußball ausgewirkt? Positiv wie negativ.
Zunächst einmal herrschte eine große Euphorie bei den ehemaligen DDR-Bürgern. Plötzlich konnte man frei reisen und somit auch Fußball erleben, wo man wollte. Doch zahlreiche Fußballtalente gingen dann in den Westen – das betraf nicht nur den Spitzensport, sondern auch den Amateurbereich, der einen erheblichen Aderlass spüren musste. Der ostdeutsche Fußball hatte somit in den 1990er Jahren einen schweren Stand, einige Vereine haben sogar um das Überleben gekämpft.
Wichtig ist aber auch, dass sich die Vereine umstrukturieren mussten. Dieser Aspekt ist mir sehr wichtig: Der Sportverein war zwischen 1989 und den frühen 1990er Jahren ein wichtiger Lernort von Demokratie. Vorher war man es in der DDR gewohnt, dass sich in den Betriebsmannschaften um Dinge wie beispielsweise neue Fußbälle gekümmert wurde. Nun aber musste man sich ausschließlich selbst um die Angelegenheiten kümmern. Es gab bei den Vorstandswahlen im Verein auch keine strikten Vorgaben mehr. Man hatte es nun selbst in der Hand. Es war für sehr viele Sportler ein Erleben der neuen Zivilgesellschaft.
Somit waren Fußballvereine nach der Wiedervereinigung ein wichtiger Faktor für das kulturelle Zusammenführung von Ost und West?
Absolut. Ich habe es selbst erlebt. Natürlich wusste ich sehr schnell, wo der Kudamm ist und wie man dort hinkommt. Aber den Westteil Berlins haben ich und viele andere durch den Spielbetrieb wirklich kennengelernt. So lernte man die Bezirke und andere Menschen kennen. So kam es zu sozialen Begegnungen und Vermischungen von Ost und West. Es war für uns manchmal wie die Erkundung völlig neuen Gebietes. Wir sollten den Amateursport bei der Erzählung der Wiedervereinigung viel stärker berücksichtigen. Der Fußball führte zu vielen Begegnungen und hinterließ nicht selten starke Emotionen. Auf und neben dem Platz konnte die Wiedervereinigung viel leichter auf Augenhöhe und gemeinsames Erlebnis erfahren werden.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Marc Schwitzky, rbb|24 Sport.
Sendung: rbb Der Tag, 08.11.2024, 18 Uhr