Illustration Am Späti:Ein Aschenbecher mit Zigaretten(Quelle:rbb)

Berlin Am Späti in Berlin-Buch: "Was mir Sorgen macht, ist, dass die ganze Gesellschaft durcheinander gerät"

Stand: 18.08.2024 18:02 Uhr

Die meisten Berliner wohnen außerhalb des Rings. Zwei rbb|24-Reporter sprechen dort Leute am Späti an und fragen, was sie umtreibt. Heute: eine kettenrauchende Späti-Verkäuferin, die die alten Werte vermisst.

rbb|24 will mit den Gesprächsprotokollen, die "Am Späti" entstanden sind, Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben die Meinungen der Gesprächspartner wieder.

Wer: Verkäuferin im Späti
Alter: 62
Uhrzeit: 13:30
Gekauft: nichts, sie arbeitet hier
Späti: Ein Lotto-Toto-Laden in der Nähe des S-Bahnhofs Berlin-Buch

Sie steht links neben der Eingangstür des Lotto-Toto-Ladens und raucht, ein breites Grinsen im Gesicht.
 
Ich wohne seit 35, 36 Jahren hier. In Lichtenberg bin ich aufgewachsen und dann durch Hochzeit und so weiter hier her. Ob ich hier gerne lebe? Ja…
 
Sie zieht das "Ja" sehr lang und zögert kurz.
 
Da, wo ich jetzt wohne, ist es ziemlich ruhig. Ich möchte nicht mehr da wohnen, wo wir zu Anfang hier in Buch gelebt haben. Plattenbau. Nicht mehr schön.
 
Wie sagt man so schön? Es muss eben gehen. Es gibt Niederlagen, es gibt Sachen, die man toll findet. Mein Highlight ist, dass mein jüngstes Enkelkind endlich einen Platz im Betreuten Wohnen gekriegt hat. Weil der psychisch sehr stark gestört war und in die kriminelle Laufbahn abgedriftet ist. Meine Tochter hat da zwei Jahre lang für gekämpft.
 
Erst hieß es, sie haben keine Plätze, dann hieß es, sie haben kein Geld dafür. Es waren immer wieder andere Ausreden und sie hat gekämpft, gekämpft, gekämpft. Jetzt scheint er gut Fuß zu fassen.
 
Aber ich muss sagen: Berlin für Kinder und Jugendliche - die werden zu so vielem verführt und…
 
Sie macht eine längere Pause.
 
Da können die Eltern auch nichts mehr machen, wenn die Freunde anfangen, mit zwölf Jahren zu kiffen oder mit sieben Jahren zu rauchen. Da ist man ganz schnell drin als Kind.

Mein Enkel hat geraucht. Wir wissen nicht, ob er gekifft hat. Zumindest hat er sehr viel zerstört - aber aufgrund der Krankheit. Er braucht immer Highlights, immer Kicks. Dieses ADHS. Das ist ja von Geburt an so eine Fehlschaltung. Und da, wo er jetzt ist, wird er gefordert von den Pädagogen. Die haben eine gute Ausbildung. Wo man manchmal hier denkt, die Lehrer sind wirklich nur als Aufsichtspersonen da. Bei der kleinsten Kleinigkeit musste meine Tochter von der Arbeit kommen. Zum Glück hat ihre Arbeitsstelle ihr nicht gekündigt.
 
Eine Kundin geht in den Laden. Sie lässt ihre Zigarette im Aschenbecher liegen und geht hinterher. Wir sprechen erst einige Zeit später weiter. Die Zigarette ist inzwischen bis zum Filter abgebrannt – übrig ist ein langer, grauer Stift aus Asche. Bevor wir weitersprechen, wischt sie einige Brötchenkrümel von einem der Stühle vor dem Laden. Ein Kunde hatte damit die Spatzen gefüttert. Der hat sich gerade am Kaffee verschluckt und spuckt ihn am Nebentisch aus.
 
Ich habe zwei Kinder und fünf Enkelkinder. Als Oma bin ich jetzt nicht mehr so sehr gefragt. Der Jüngste ist jetzt zwölf, die anderen sind alle schon größer und haben eigene Interessen. Klar, sind die manchmal noch bei Oma zu Besuch, aber nicht wie früher, wo sie fast den ganzen Tag bei mir waren. Ja, so hat man sein Tun.
 
Über Enkel hatte ich früher nie nachgedacht, aber zwei Kinder wollte ich schon immer haben. Ja, das war schon so mein Lebensplan – gut, Häuschen und Garten vielleicht nicht, weil ich dachte: Da kommst du eh nie hin. Na ja, wir hatten einen Schrebergarten mit den Schwiegereltern zusammen. Das hat mir eigentlich schon gereicht. Wohnung, Schrebergarten - gut, das war’s. Dann kam die Wende und dann konnten wir uns das Haus kaufen.
 
Im Großen und Ganzen bin ich schon zufrieden. Aber, was mir Sorgen macht ist, dass die ganze Gesellschaft durcheinander gerät. Dass man die alten Werte nicht mehr schätzt.
 
Sie spricht jetzt langsamer.

Die Disziplin, den Anstand. Gegenüber jedem Menschen. Es wird keine Rücksicht mehr genommen. Ordnung und Sauberkeit – es wird alles hingeschmissen und keiner kümmert sich drum. Und die paar, die sich kümmern, denen wird der Vogel gezeigt.
 
Ich muss sagen: Zu DDR-Zeiten gab es so was überhaupt nicht. Von wegen Wände beschmieren oder so! Da hatten die Kinder und auch die Erwachsenen Respekt vor der Polizei - die Strafen waren ja auch ganz anders. Wo man heutzutage sagt "Kavaliersdelikt", dafür wurde man richtig hart bestraft. Wenn man nicht arbeiten gegangen ist, obwohl man in der Lage dazu war, wurde man eben bestraft. Man musste zwangsarbeiten gehen.
 
Sie deutet auf die gegenüberliegende Straßenseite, dort sitzen mehrere Männer schon seit dem Morgen und trinken Bier.
 
So wie heutzutage unsere Jungs, die alkoholkrank sind. Wenn zu DDR-Zeiten jemand alkoholkrank war, dann wurde er auf Entzug und unter psychologische Betreuung gesetzt. Ihm wurde "zwangsgeholfen", sage ich mal. Heutzutage ist es jedem selbst überlassen, was ich nicht gut finde. Manche können sich nicht selber entscheiden oder können nicht darüber bestimmen. Diese Veränderung ist eben extrem. Auch die Gewalttaten Kindern und Jugendlichen gegenüber. Das nimmt Überhand.
 
Wir werden unterbrochen. Der Mann am Nebentisch ruft aufgeregt – er hat einen Fahrradhelm gefunden, den offenbar jemand liegengelassen hat. Er wirkt etwas überfordert mit der Situation.
 
Na, leg ihn oben auf die Hecke drauf! Vielleicht hat das einer verloren. Andersrum! So, dass man sieht, dass das ein Helm ist. Genau! Der leuchtet ja so schön!
 
Sie geht wieder in den Laden. Zurück lässt sie eine weitere Zigarette, die im Aschenbecher vor sich hin glüht. Wir sprechen erst eine gute halbe Stunde später weiter.

Man muss sein Leben leben, wie es kommt. Das, was man gerne ändern möchte, kann man selber nicht ändern. Ich habe ein Dach über dem Kopf, genug zu Essen, habe mein Auskommen vom Einkommen. Mehr will man nicht. Das reicht.
 
Sie macht eine lange Pause und schaut in die Ferne.
 
Mein Sechser im Lotto ist der Job hier. Das Schöne ist, dass man auch gleich ein Feedback kriegt von den Kunden. Wenn sie wiederkommen oder Trinkgeld geben – das ist das Angenehme daran. Oder dass man den Leuten auch mal zuhören kann, "Kopf hoch, Mensch, das wird schon wieder!" Manchmal wollen sie auch wirklich nur ihr Herz ausschütten.
 
Auf die Frage, über welches Thema in Buch mehr berichtet werden müsste, antwortet sie wie aus der Pistole geschossen.
 
Über die wenigen Einkaufsmöglichkeiten, die es hier gibt. Entweder sind die Regale leer, die kommen nicht mehr hinterher. Zu Kaufland braucht man gar nicht mehr gehen, man kriegt keine Körbe mehr, kein Parkplatz, nichts. Das ist einfach überlaufen alles. Dann: unsere Post, die macht zu und auf – so, wie sie lustig ist, hat man das Gefühl.
 
Dann sind bei der Postbank die Geldautomaten gesprengt wurden und jetzt bei der Sparkasse. Die Leute müssen immer weiter fahren, um ihre Konto-Geschäfte in Ordnung zu bringen. Das ist, was hier wirklich fehlt. Da müsste mal was passieren.
 
Ein Kunde kommt. Sie geht wieder rein. Eine weitere Zigarette schmort vor sich hin.

Das Gespräch führte Jonas Wintermantel, rbb|24.