Bilderstrecke Graue Zellen
Stand: 27.12.2023 20:58 UhrGeht man die Lehrter Straße in Moabit entlang fällt einem das Gebäude mit den hellgrauen Toren vielleicht auf den ersten Blick gar nicht auf - der Blick nach oben aber zeigt, was hier mehr als 100 Jahre lang galt: Du kommst hier net rein - und vor allem nicht raus. Manchen gelang es trotzdem.
Mal ein Blick von der anderen Seite. Die "Nördliche Militärarrestanstalt" wird von 1898 bis 1902 gebaut. Hier sitzen Angehörige der preußischen Armee ihre Strafen ab. In der Straße gibt es aber noch andere Gefängnisse: In der Lehrter Straße 1-5 steht das 1840 gebaute Zellengefängnis Lehrter Straße, es ist bis zum Abriss in den späten 1950er-Jahren in Betrieb.
Karl Liebknecht wird 1916 im Gerichtsgebäude direkt neben dem Gefängnis zu vier Jahren und einem Monat Zuchthaus verurteilt, weil er gegen den Krieg protestiert hat. "Ich sage Ihnen: Kein General trug je eine Uniform mit so viel Ehre, wie ich den Zuchthauskittel tragen werde”, entgegnet Liebknecht im Gerichtssaal.
Die Haftbedingungen in dem düsteren, verwinkelten Bau werden mit der Zeit immer schlechter. Immer wieder kommt es zu Hungerstreiks und Übergriffen von Seiten der Gefangenen. So sieht eine Zelle 1976 aus.
Und so sieht sie 47 Jahre später aus: Knapp sechs Quadratmeter. Das Parkett kann man noch ganz gut erkennen.
Viele der Frauen sind heroinabhängig und werden nicht angemessen therapiert. Manchmal werden die Drogen einfach vom benachbarten Poststadion über die Gefängnismauer geworfen. “In keine Anstalt gerät der Stoff leichter. Wer noch nicht süchtig ist, schafft es spätestens hier”, schreibt der Tagesspiegel damals.
"Keine Hinweise an die Polizei": An der Ecke Waldemarstraße / Legiendamm in Kreuzberg pinseln 1976 Unterstützer der RAF ihre Parole an die Berliner Mauer. Am 7. Juli sind vier Mitglieder der terroristischen Vereinigung "Bewegung 2. Juni" aus dem Frauengefängnis in der Lehrter Straße ausgebrochen - für die mehrfach verurteilte Terroristin Inge Viett ist es bereits der zweite erfolgreiche Ausbruch.
Ein Beispiel aus dem Alltag in der Lehrter Straße: Am 20. Oktober 1984 wird ein Säugling im Haftkrankenhaus geboren, seine Mutter nennt ihn Manuel. Sie ist wegen räuberischer Erpressung zu elf Jahren hinter Gittern verurteilt worden. Ihr Freund sitzt in einer anderen JVA. Manuel haben sie bei gegenseitigen Gefängnisbesuchen gezeugt. Wenige Tage nach seiner Geburt kommt das Baby in ein Heim.
1985 schließt der Senat das Frauengefängnis und lässt die Insassinnen in die neue JVA in Charlottenburg verlegen. Bis 2012 dient der Bau noch als Außenstelle von Plötzensee, für Verurteilte mit maximal 36 Monaten Freiheitsstrafe. Seitdem steht er leer.
Die früheren Zellen werden nun saniert, die Schadstoffe entfernt. Aus ihnen werden Musikprobenräume. Die Fenster sind mit Staubschutzfolien abgeklebt.
Immer zwei Zellen sollen zu einem Probenraum zusammengelegt werden. Dank der dicken Gefängnismauern ist der Schallschutz kein Problem - die Mieterinnen und Mieter sollen die Räume deshalb rund um die Uhr nutzen können.
Die Räume im ehemaligen Verwaltungsgebäude der JVA sollen Ateliers für Künstlerinnen und Künstler werden. Der Senat vermietet sie gefördert für 4,09 bis 6,50 Euro Warmmiete pro Quadratmeter. Vergeben werden sie vom Kulturwerk des Berufsverband Bildender Künstler*innen Berlin.
Der ehemalige Sporthof der JVA. Auch hier bekommt man eine Idee davon, warum das frühere Gefängnis als Drehort so beliebt ist.
Tatorte und Kinofilme werden hier im ehemaligen Knast gedreht, "Babylon Berlin" und "Das Damengambit", auch Steven Spielberg und Tom Hanks waren schon da.
Die "Seufzerbrücke": Der Gang über dem Hof, den die Verurteilten vor langer Zeit aus den Gerichtssälen nebenan rüber in den Zellentrakt nehmen mussten.
Weil der dreilteilige Gebäudekomplex so verschachtelt und unübersichtlich ist, kann man sich leicht in ihm verlaufen.
Deswegen kleben vom Haupteingang des Ex-Gerichtsgebäudes bis tief in den Zellentrakt alle paar Meter diese Stücke Absperrband an der Wand - so findet man wieder raus.
Direkt hinter dem früheren Gefängnis liegt das Poststadion, heute dreht hier nur ein einsamer Jogger seine Runden. Auftritt Axel Lange, 1969 bis 1972 Torwart bei TeBe: "Das Poststadion hatte aber auch mit dem angrenzenden Frauengefängnis an der Lehrter Straße eine ganz besondere Zuschauerkulisse. Im Sommer saßen die weiblichen Gefangenen in den Fenstern ihrer Zellen und ließen zwischen den Gittern ihre Beine heraushängen. Das war eine doch recht auffallende und nicht alltägliche Begleiterscheinung unserer Fußballspiele."
Was aus dem Gerichtsgebäude, dem dritten der drei Ensembleteile, werden soll, ist noch nicht ganz geklärt. Die BIM plant hier einen Produktionsstandort für die Freie Szene, ,mit Veranstaltungsräumen für "interdisziplinäre Kunstformen mit Schwerpunkt Musik, Tanz und Darstellende Künste", heißt es. So hatte es auch die damalige Kulturverwaltung unter Klaus Lederer (Linke) vorgesehen. Der ist weg - nun prüft der schwarz-rote Senat erstmal, ob ihm die Sanierung das Geld auch wirklich wert ist.
Läuft alles ideal, könnte der frühere Knast im Laufe des Jahres 2025 seine Tore als neues Kreativzentrum öffnen.
Der Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 27.08.2023. | zum Beitrag | Alle Bildergalerien