Museum Berlin-Karlshorst: Riss durch Europa | Ausstellungsansicht © Museum Berlin-Karlshorst

Berlin Interview | Ausstellung "Riss durch Europa": "Der Hitler-Stalin-Pakt ist für einige Staaten der Verlust der Eigenstaatlichkeit"

Stand: 23.08.2024 13:36 Uhr

Mit dem Hitler-Stalin-Pakt teilten vor 85 Jahren das Deutsche Reich und die Sowjetunion Ostmitteleuropa quasi untereinander auf. Wie unterschiedlich in West- und Osteuropa erinnert wird, zeigt eine Ausstellung im Museum Karlshorst.

In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1939 unterzeichneten die Außenminister des Deutschen Reiches und der Sowjetunion einen Vertrag, in dem sie gegenseitig Neutralität vereinbarten, sollte einer der Vertragspartner in kriegerische Auseinandersetzungen geraten. Dieser Vertrag ging als Hitler-Stalin-Pakt in die Geschichte ein. Eine der Besonderheiten des Vertrags war, dass er beide Seiten auch dann zu Neutralität verpflichtete, sollte die Aggression von den Unterzeichnerstaaten ausgehen. Vor allem aber sah ein geheimes Zusatzprotokoll die Aufteilung des Baltikums und Polens in eine russische und eine deutsche Interessenssphäre vor.
 
Mit Abschluss des Vertrages wurden die Rahmenbedingungen geschaffen für den deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939 und den Einmarsch der sowjetischen Roten Armee in Polen am 17. September 1939. Zehn Tage später kapitulierte Polen. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 beendete dann wiederum das deutsch-sowjetische Bündnis.
 
Der Kurator der Ausstellung "Riss durch Europa" im Berliner Museum Karlshorst, Christoph Meißner, erklärt im Interview, warum der Pakt in den Ländern West- und Osteuropas so unterschiedlich wahrgenommen wird.

rbb|24: Herr Meißner, in der westdeutschen Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg nimmt der Hitler-Stalin-Pakt eher den dritten oder vierten Platz ein. In den mittel- und osteuropäischen Ländern hat er eine weitaus größere Bedeutung. Warum?
 
Christoph Meißner: Das hängt mit dem Hitler-Stalin-Pakt selbst zusammen. Denn er teilte die Interessenssphären in eine deutsche und in eine sowjetische Interessenssphäre. In der sowjetischen Interessenssphäre sind die Verbrechen des Stalinismus viel präsenter als die deutschen Verbrechen. Auch wenn diese Länder und die Sowjetunion später von der deutschen Wehrmacht überfallen wurden und diese Länder eine deutsche Okkupation erlebten, so spielt der Verlust der Unabhängigkeit beziehungsweise der Verlust von territorialen Gebieten in der Folge des Hitler-Stalin-Pakts für diese Länder eine ungemein große Rolle und ist bis heute auch ein Kern der nationalen Identität.

In Ihrer Ausstellung kann man anhand von echten Lebensgeschichten von Bäuerinnen, Schriftstellern oder Armeeangehörigen erfahren, wie sich das Leben in den von Stalin und Hitler eroberten Ländern verändert hat. Was erfährt man da zum Beispiel?
 
Diese Biografien drehen sich um das Thema Kooperation, Widerstand, aber auch um die Tatsache, einfach Opfer zu werden von einer Diktatur. Wir haben bewusst zu jedem Länderschwerpunkt, den wir in der Ausstellung haben, Biografien ausgewählt, die diese Themen aufgreifen. Wir erfahren, dass Menschen, die in der Zwischenkriegszeit marginalisiert wurden, weil sie als Minderheit zum Beispiel in Polen lebten oder weil sie eine kommunistische Anschauung hatten und in den baltischen Staaten lebten, dass diese Menschen sich schnell dieser sowjetischen Macht anschlossen und sie unterstützten. Wir erfahren aber auch, dass Leute diese sowjetische Macht aus ihrer Erfahrung heraus nach dem Ersten Weltkrieg als etwas Bedrohliches empfanden und sich dagegen auflehnten. Wir erfahren ganz viele verschiedene Spektren von Widerstand und eben auch Kooperation.

Welche Rolle spielt Russland in Ihrer Ausstellung?
 
Russland ist ein Land unter vielen in der Ausstellung. Russland ist der Nachfolgestaat der Sowjetunion beziehungsweise einer der Nachfolgestaaten und geht mit dem Hitler-Stalin-Pakt heute in der Geschichtsbetrachtung ganz anders um, als die anderen Staaten. Für Russland ist der Hitler-Stalin-Pakt bis heute - oder ist es wieder geworden - ein Gewinn von Zeit. In Russland wird es so dargestellt, dass Stalin mit dieser aus dieser Sicht unglaublich heroischen und wichtigen diplomatischen Initiative zwei Jahre Zeit gewonnen hat vor dem Krieg, den das Deutsche Reich früher oder später so oder so gegen die Sowjetunion begonnen hätte.
 
Dabei wird geflissentlich übersehen, dass die Sowjetunion eben in dieser Zeit zwischen 1939 und 1941 auch Aggressor war, denn sie brach einen Krieg gegen Finnland los, sie besetzte die Baltischen Staaten, sie besetzte das Ost-Territorium Polens und sie besetzte auch in Rumänien Teile des Landes.

Fast jede Familie hat mit den Verbrechen, die die sowjetische Besatzungsmacht in diesen Ländern begangen hat, zu tun.

Das heißt, der Pakt ist heute oder bis heute in der Geschichtserinnerung total unterschiedlich verankert?
 
Ja, die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt wird bis heute in Ostmitteleuropa anders wahrgenommen als in Russland und wird anders wahrgenommen als in Westeuropa. Für Ostmitteleuropa ist dieser Hitler-Stalin-Pakt ein Kern der Geschichtsbetrachtung im 20. Jahrhundert. Er ist für einige Staaten der Verlust der Eigenstaatlichkeit. Fast jede Familie hat mit den Verbrechen, die die sowjetische Besatzungsmacht in diesen Ländern begangen hat, zu tun. Diese Erinnerung wird weitergetragen in die heutigen Generationen hinein. Das führt eben auch dazu, dass in Ostmitteleuropa die Reaktionen auf den russischen Angriff auf die Ukraine 2022 deutlich unterschiedlicher ausgefallen sind, als das vielleicht in Westeuropa war.

Wollen Sie mit dieser Ausstellung einen Denkanstoß geben, was die westliche Erinnerungskultur und das Verstehen der osteuropäischen Perspektiven betrifft?
 
Die Ausstellung hat sich zum Ziel gesetzt, eine multiperspektivische Betrachtungsweise des Hitlers-Stalin-Paktes zu zeigen. Wir haben bewusst die Perspektiven der Länder in den Mittelpunkt gestellt, die vom Pakt betroffen waren. Durch die Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung ist es uns außerdem gelungen, die Ausstellung eins zu eins ins Internet zu stellen. Dadurch wird es eben auch Schulklassen und Lehrern ermöglicht, die nicht nach Berlin reisen können oder an die Orte, an denen sie als Wanderausstellung noch gezeigt wird, sich diese Ausstellung anzuschauen. Es wird dazu Lehrerhandreichungen geben, das heißt Lehrer können auch mit dieser Ausstellung arbeiten.

Vielen Dank für das Gespräch!
 
Das Interview führte radio3 vom rbb. Der Text ist eine redigierte und gekürzte Fassung.

Sendung: radio3, 21.08.2024, 16:10 Uhr