Erika von Brockdorff mit Tochter Saskia (Quelle: Privatbesitz Saskia v. Brockdorff)

Berlin NS-Widerstand: "Ich dachte, ihr war ihre Widerstandstätigkeit wichtiger als ihre Tochter"

Stand: 19.07.2024 11:34 Uhr

Ein Brief, der alles verändert: Mit über 60 Jahren erfährt Saskia von Brockdorff, was ihre Mutter in den Tagen vor ihrer Hinrichtung durch die Nationalsozialisten dachte. Ein Gespräch über das komplexe Erbe, das die Widerstandskämpferin ihrer Tochter hinterließ.

rbb: Frau von Brockdorff, Sie waren gerade einmal fünf Jahre alt, als Ihre Mutter Erika von Brockdorff von den Nationalsozialisten wegen ihrer Widerstandstätigkeit ermordet wurde. Haben Sie noch Erinnerungen an sie?
 
Saskia von Brockdorff: Ganz, ganz wenige. Ich habe mir später aus verschiedenen Ecken die Informationen zusammengeklaubt. Aber ich weiß zum Beispiel, dass sie sehr viel Humor hatte, und dass sie auch ein bisschen dickköpfig war. Mein Vater sagte immer zu ihr: 'Du wieder mit deinem pommerschen Dickschädel.' Wenn sie der Meinung war, eine Sache ist richtig, dann hat sie auch darauf beharrt.

Ihre Mutter war Teil der sogenannten Roten Kapelle, einem Zusammenschluss mehrerer Freundeskreise, die sich gegen das Hitlerregime auflehnten. Inwiefern war Ihre Mutter in den Widerstand involviert?
 
Aus der Wohnung meiner Eltern hat man Funkversuche unternommen. Aber im Grunde genommen ist nur ein einziger Funkspruch in Moskau angekommen, und der hieß so ungefähr: 'Wir grüßen alle Freunde!' Die Funkgeräte hatten nicht genügend Kapazität und die Rote Kapelle hatte auch keine ausgebildeten Funker. Eigentlich, wenn man das so will - und es hat mich später auch sehr traurig gemacht - ist meine Mutter hingerichtet worden für nichts. Für die guten Absichten, die leider nicht funktioniert haben, weil die Russen ihnen kein gutes Funkgerät gegeben haben.

Welche Rolle hat Ihre Mutter in Ihrem Leben gespielt?
 
Ich habe bis 1970 in der DDR gelebt, und da hat man die Widerständler sehr hochgehalten, sodass ich immer an meiner Mutter gemessen wurde. Wenn ich mal in der Stunde geschwatzt habe, sagte man: 'Wie kannst du nur bei der Mutter?' Mein Vater machte es genauso. Sie wurde immer zitiert und auch oft auf den Sockel gehoben, ohne dass ich viel über sie wusste.
 
Das war für mich schwierig. Als ich vielleicht 18 war, habe ich dann gesagt: Ich will nicht mehr die Tochter von Erika von Brockdorff sein, ich will mein eigenes Leben leben. Weil ich diese diesen ewigen Vergleich mit einer Person, zu der ich kaum Zugang hatte, gar nicht haben konnte.

Heute sprechen Sie viel über Ihre Mutter, reisen durch ganz Deutschland und besuchen Schulen, um an sie zu erinnern. Wie kam dieser Wandel?
 
Ich war eines Tages bei einer Konferenz und sagte zum Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, dass ich so wenig über meine Mutter weiß. Und dann hat er gesagt: 'Wir haben eine ganze Menge! Kommen Sie nochmal her!'
 
Ich habe dann zwei große Stöße Papier durchgeschaut und habe einen Brief gefunden.

Saskia von Brockdorff, Tochter von Erika von Brockdorff (Quelle: dpa/Paul Zinken)

Saskia von Brockdorff

Können Sie uns etwas aus dem Brief vorlesen?
 
Ja.
 
Meine liebe Saskia. Ich hoffe, dass dich diese Zeilen einmal erreichen werden. Dann werde ich lange nicht mehr sein. Aber ich wollte dir mit diesen Zeilen sagen, dass ich in meiner Zelle sehr oft, ja am meisten nur an dich gedacht habe. Du bist jetzt fünf Jahre alt und noch bei meinen Eltern. Die werden dich über den Schmerz trösten, dass du nun keine Mutter mehr hast. Mein liebes, liebes Kind, ich wünsche dir für dein Leben alles nur erdenklich Gute. Mögest du eine offener, ehrlicher, gerader Mensch werden. [...] Man kann mir viel vorwerfen, aber das eine nicht, dass ich keine gute Mutter gewesen. Ich habe das Beste gewollt. Daran sollst du dich immer halten, wenn man mich klein machen will in deinen Augen. Ich habe den festen Glauben, dass mal eine Zeit kommt, wo man anders über mich und die vielen anderen denkt. Ich hätte die auch noch so gerne erlebt. Nun bin ich aber nicht traurig, dass es anders ist. In mir ist eine so wundervolle Ruhe und Klarheit. Sei tausendmal gegrüßt und geküßt von deiner Mutter.

Axel Smend, Sohn des hingerichteten NS-Widerstandskämpfers Günther Smend, im Raum, in dem sein Vater 1944 hingerichtet wurde. (Quelle: rbb).
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Diesen Brief hat Ihre Mutter wenige Tage vor Ihrer Hinrichtung geschrieben. Bekommen haben Sie ihn aber erst mit über 60 Jahren. Inwiefern hat das Ihr Leben verändert?
 
Bevor ich den Brief hatte, habe ich immer gedacht, ihr war ihre politische Widerstandstätigkeit wichtiger als ihre Tochter. So nach dem Motto: Wie kann eine Mutter das machen, wenn sie doch ein Kind hat? Wie kann sie dieses Risiko eingehen? Als ich aber den Brief gelesen habe, habe ich festgestellt: Sie hat dich so lieb gehabt und deine ganzen Zweifel waren völlig umsonst. Ich wusste, dass ich ein geliebtes Kind war. Für mich war auf einmal vieles in Ordnung, vor allen Dingen im Verhältnis zu meiner Mutter.

Oftmals wird beim Thema Widerstand gegen den Nationalsozialismus an den militärischen Widerstand gedacht, an die Namen Stauffenberg und anderer männlicher Offiziere. Warum ist es Ihnen wichtig, an den Widerstand Ihrer Mutter und anderer Frauen zu erinnern?
 
Weil die Vergangenheit nie ganz vergangen ist. Sie zieht sich auch in die Gegenwart hinein. Man hat sich daran gewöhnt, beim Thema Widerstand auf den 20. Juli zu blicken. Aber es gab noch etwas anderes.
 
Frauen nehmen auch in unserer Gesellschaft noch nicht so einen großen Platz ein. Ich meine, klar, sie haben sich etliches erkämpft, aber trotzdem. Es wundert mich nicht, dass die Frauen im Widerstand weniger Beachtung finden. Man kann bloß versuchen, sich nicht darüber zu wundern, sondern etwas dagegen zu tun. Und das mache ich halt.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
Das Interview führte Sophia Wetzke.

Sendung: rbb24 Abendschau, 17.07.24, 19:30 Uhr