Symbolbild:Ein kleiner Junge sitzt allein auf dem Holzgeländer eines Spielplatzes im Innenhof eines Plattenbau-Wohngebiets in Frankfurt (Oder).(Quelle:picture alliance/dpa-Zentralbild/P.Pleul)

Berlin Brandenburg Interview: "Es wird über den Osten gesprochen, als sei das eine Defizit-BRD"

Stand: 10.09.2024 11:16 Uhr

Hendrik Bolz und Domenico Müllensiefen sind in Ostdeutschland aufgewachsen und beschreiben in ihren Romanen die Lebensrealität der Nachwende-Generation. Ein Gespräch über ostdeutsche Klischees und den Umgang mit Rechtsextremismus im Alltag.

rbb: Herr Bolz und Herr Müllensiefen, wie nehmen Sie als junge ostdeutsche Stimmen den Blick auf den Osten heute wahr?
 
Domenico Müllensiefen: Der Osten ist mit Klischees übersättigt und oft völlig überzeichnet. Es ist eine äußerst heterogene Gesellschaft, die homogen dargestellt wird, als wenn das praktisch alles nur Prügelnazis wären. Aber das spiegelt den ganzen Osten überhaupt nicht wider. Dafür sind schon allein die kulturellen Vorprägungen und die Geschichte viel zu breit.
 
Hendrik Bolz: Ich habe das Gefühl, dass noch viel zu oft über den Osten gesprochen wird, als wenn das eine Defizit-BRD wäre. Dazu kommen dann noch so eine Angstlust und so ein Ost-Grusel. In der Zeit, in der wir aufgewachsen sind, war Ostdeutsch sein komplett uncool und stigmatisiert. Die Massenarbeitslosigkeit durch die Deindustrialiserung zum Beispiel wurde da so hingedreht, nach dem Motto: Ostdeutsche sind einfach faul, weil sie in der DDR nicht gelernt haben zu arbeiten. Sowas macht natürlich sauer. Ich finde aber, dass sich, im Gegensatz zur Generation unserer Eltern und Großeltern, schon viel gebessert hat.

Müllensiefen: Meinst du? Ich war mit meinem ersten Buch ein paar Mal im Westen und es wirkte schon so, als würde ich das Kuriositätenkabinett aufmachen, wenn ich meine Geschichten dort vorlese.

Wir reden immer über "den Osten". Gibt es "den Osten" überhaupt?
 
Bolz: Nein, es gibt nicht "den Osten". Der Osten ist divers, allein schon innerhalb der Städte unterscheiden sich die Lebensrealitäten stark. Es ist schade, wenn immer alles so zusammengedampft wird. Meistens setzt man ja auch die AfD-Wähler mit den Ostdeutschen gleich. Und dann wird zu oft nur diese Gruppe angeschaut, und die anderen werden unsichtbar. Ich glaube, dass es schon hilfreich wäre für einen differenzierten Blick, wenn man nochmal genauer hinschaut und sich mehr Mühe gibt, verschiedene Perspektiven einzufangen.
 
Müllensiefen: Wenn man es wirklich auf eine Personengruppe herunterdampfen würde, dann wäre das der Personenkreis, der ab 1989 fundamentale Änderungen in seinem persönlichen Leben erleben musste. Und das trifft so ziemlich auf jede Person zu, die in der Zeit im Gebiet der ehemaligen DDR gelebt hat. Aber diese Menschen sind auch zu weiten Teilen millionenfach im Westen.
 
Bolz: Ich würde auch sagen eine Ostidentität lässt sich nicht an Charaktereigenschaften festmachen, sondern an geteilten Erfahrungen. Also zum Beispiel diese Nachwendeerfahrung oder DDR-Erfahrung, die man entweder selbst gemacht hat, oder die in den Biografien der Vorfahren eine Rolle spielt. Sowas unterscheidet uns von dem, was gleichaltrige Westdeutsche erlebten oder womit sie sich beschäftigen.

In Sachsen und Thüringen haben über 30 Prozent der Menschen bei den vergangenen Landtagswahlen die AfD gewählt. Wie gestaltet sich so ein Zusammenleben, gerade in Familien, wenn man weiß, dass ungefähr ein Drittel rechtsextrem wählt?
 
Müllensiefen: Ich glaube, es gibt drei Strategien, die alle weh tun. Die erste wäre Kontaktabbruch mit Menschen, die einem wichtig sind. Dann gibt es den ermüdenden Versuch, immer wieder darüber zu diskutieren und immer wieder zu zeigen, dass das eine total irre Richtung ist, die da eingeschlagen wird. Was unglaublich kräftezehrend ist und meistens gar nichts bringt. Oder man versucht das Thema irgendwie zu umgehen, indem man versucht, wirklich unpolitisch zu kommunizieren.
 
Bolz: Ich habe das Gefühl, dass das manchmal so eine kindliche Mächtigkeitsfantasie ist, dass jemand wie ich aus Berlin in sein altes Plattenbauviertel turnt und den Menschen dort fix ihre Welt erklärt, und die sagen dann "Ohh, ahhh, stimmt, hast recht, jetzt wähle ich ganz anders". Ich mache schon klar, dass ich Dinge anders sehe. Aber man braucht auch Geduld und es ist nicht mit zwei Gesprächen getan. Und ich glaube, was es vor allem braucht, ist einfach ein besseres politisches Angebot. Die anderen Parteien müssen wieder einen Draht zu diesen Milieus herstellen. Und im besten Fall nicht, indem man sagt, wir sind jetzt auch Rechtspopulisten, sondern indem man für eine andere Erzählung wirbt und die auch glaubhaft bei den Menschen rüberbringt.

Eine Ostidentität lässt sich nicht an Charaktereigenschaften festmachen

Wie bewerten Sie die Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen?
 
Müllensiefen: Die Wahlergebnisse haben mich nicht verwundert. Die gesellschaftliche Stimmung war eindeutig. Ich habe große Sorge, dass sich in Sachsen und Thüringen Regierungen bilden, die sich von der AfD treiben lassen und äußerst instabil sind. Die Gefahr ist, dass die AfD daraus noch mehr Stimmen generieren wird.
 
Bolz: Mich haben die Ergebnisse auch nicht überrascht. Ich hoffe der Groschen ist gefallen, dass man sich auch auf Bundesebene bemühen muss, wieder an die Leute ranzukommen und denen ein glaubhaftes Angebot zu machen. Ich fürchte auch, wenn das nicht passiert, dann sind wir in fünf Jahren in einer noch schlimmeren Situation.

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Sie hatten am Wochenende beim Internationalen Literaturfestival Berlin eine Veranstaltung namens "Future Ost". Was wünschen Sie sich für die Zukunft im Osten?
 
Bolz: Ich wünsche mir, dass sich die Lage für die Leute in Ostdeutschland verbessert, und dass sich dort auch Menschen wohlfühlen, die nicht weiß, hetero, männlich sind. Es ist schön zu sehen, dass es so viele Menschen gibt, die sich im Osten engagieren und sich mit diesen Problemen auseinandersetzen.
 
Müllensiefen: Ich wünsche mir ein positives Narrativ und mehr gesellschaftliche Mitbestimmung. Demokratie heißt nicht, dass sich der Staat um alles kümmert. Das heißt auch, dass man den Staat selbst definieren kann in all seinen gesellschaftlichen Ausprägungen. Ich wünsche mir mehr Initiative der Ostdeutschen, die ihr Herz selbst in die Hand nehmen für positive Sachen. Und ich wünsche mir, dass man sich nicht von irgendwelchen Rattenfängern verzaubern lässt. Ich glaube, das ist alles möglich. Aber man braucht halt auch viel, viel Geduld und Hoffnung.

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Haben Sie Hoffnung?
 
Müllensiefen: Momentan ist es schwierig, die zu haben, aber ja, ich habe Hoffnung.
 
Bolz: Voll. 100 Prozent.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
Das Interview führte Hadnet Tesfai.
 
Sendung: rbbKultur – Das Magazin, 07.09.2024, 18:30 Uhr