Axel Smend, Sohn des hingerichteten NS-Widerstandskämpfers Günther Smend, im Raum, in dem sein Vater 1944 hingerichtet wurde. (Quelle: rbb).

Berlin Sohn von NS-Widerstandskämpfer: "Weil ich weiß, wie er in den Tod gegangen ist, kann ich mich auch versöhnen"

Stand: 16.07.2024 10:09 Uhr

Axel Smend war vier Monate alt, als die Nazis seinen Vater Günther hinrichteten. Seit vielen Jahren engagiert sich Smend für das Gedenken an die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944. Im Interview erzählt er, wie die Erinnerung an seinen Vater sein Leben prägt.

rbb: Herr Smend, wir treffen uns heute in der Gedenkstätte Plötzensee. Der Ort, an dem Ihr Vater von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Wie ist es für Sie, hier zu sein?
 
Axel Smend: Für mich ist der Hinrichtungsraum natürlich der schrecklichste Ort, den ich mir überhaupt vorstellen kann. Aber natürlich auch ein Ort, an dem ich intensivst an meinen Vater denken kann. Ich sehe ihn vor mir in den letzten Minuten seines Lebens. Aber da ich weiß, mit welchen Gedanken er dem Tod ins Auge gesehen hat, kann ich mich auch versöhnen.
 
Woher wissen Sie, welche Gedanken Ihr Vater vor seinem Tod hatte?
 
Wir haben das Glück, dass unser Vater uns ein Büchlein hinterlassen hat, es heißt "Gedanken sind Kräfte". Darin finden sich Bibelverse und andere Sprüche, und in diesem Büchlein hat er auch seine Gedanken eingetragen. Es steht dort zum Beispiel: "Not lehrt Beten. Ich habe wieder beten gelernt". Er hat immer wieder geschrieben, wie viel Trost ihm dieses Büchlein gegeben hat. Und das ist natürlich für uns Kinder und für seine Frau ein Geschenk. Zu wissen, dass der Vater nicht im Gram aus dem Leben geschieden ist, sondern dass er seinen inneren Frieden mit Gott, aber auch mit der Welt gefunden hat.

Axel Smend, Sohn des hingerichteten NS-Widerstandskämpfers Günther Smend, engagiert sich seit Jahrzehnten für das Gedenken an den Widerstand der Verschwörer vom 20. Juli 1944 (Quelle: rbb).

"Zu wissen, dass der Vater nicht im Gram aus dem Leben geschieden ist": Axel Smend, heute 80 Jahre alt.

Was wissen Sie über die Beteiligung Ihres Vaters am Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944?
 
Unser Vater wurde im Jahr 1943 Adjutant vom Chef des Generalstabs des Heeres, das war Kurt Zeitzler. In dieser Tätigkeit kam er mit Widerstandspersonen in Berührung und hat sich sicherlich innerlich dem Widerstand angeschlossen. Es war dann Stauffenberg, der ihn bat, seinen Vorgesetzten Zeitzler für den Staatstreich zu gewinnen. Denn es war natürlich für den gesamten Widerstandskreis - für den militärischen aber auch den zivilen Widerstand – sehr wichtig, auf den entscheidenden Positionen Männer und Frauen zu haben, die auf der Seite von Stauffenberg waren und nicht auf der Seite von Hitler.
 
Und so hat mein Vater seinen Vorgesetzten Zeitzler gefragt. Aber dieser Anwerbeversuch war erfolglos. Sie haben sich ausgetauscht und letztlich hat Zeitzler zu meinem Vater gesagt: "Smend, das war ein Nichtgespräch." Das war das, was mein Vater getan hat und was ihm vorgeworfen wurde.

Lassen Sie uns über Ihre Mutter Renate Smend sprechen. Wusste sie etwas von der Beteiligung Ihres Vaters am Widerstand?
 
Unser Vater hat ihr nichts gesagt, das war eine reine Sicherheitskalkulation. Sie muss etwas geahnt haben, als die Gestapo bei uns in Lüneburg an der Haustür war und alle Sachen meines Vaters konfiszierte. Sie sagten zu meiner Mutter: "Schlips und Gürtel können Sie gleich dalassen." Da muss meiner Mutter klar gewesen sein, dass mein Vater in irgendeiner Weise mit dem Widerstand verstrickt und in Haft war.
 
Nach der Verhaftung und der anschließenden Hinrichtung Ihres Vaters war Ihre Mutter mit drei kleinen Kindern auf sich allein gestellt. Sie selbst waren gerade einmal wenige Monate alt, als Sie ihren Vater verloren. Was wissen Sie darüber, wie es Ihrer Mutter in dieser Zeit erging?
 
Es bestand die große Frage für die Witwen – nicht nur für meine Mutter, für alle Witwen: Wie sage ich das jetzt meinen Kindern? Wie sage ich denen, dass ihr Vater von heute auf morgen ein "Verräter" ist, dass er versucht hat, Hitler umzubringen? Ein Mann, hinter dem damals – nehmen wir August 1944 – eine breite Masse der deutschen Bevölkerung stand. Ich glaube, das war eine große seelische Not.

Welche Erlebnisse machte Ihre Mutter mit diesem Stigma der sogenannten Verräterwitwe?
 
Nachbarn waren plötzlich nicht mehr Nachbarn, sondern mieden die Bekanntschaft mit meiner Mutter. Was man sogar verstehen kann, denn die Nachbarn, denen hätte man gesagt: 'Ach, ihr steckt mit Familie Smend unter einer Decke!' Es war ja noch Krieg.
 
Das war die seelische Grausamkeit. Das Zweite war natürlich das rein Materielle. Die Offiziere, die am 20. Juli beteiligt waren, wurden aus der Wehrmacht entlassen. Sie bekamen keinen Sold, keine Pension. Das hieß auch, dass die Familien auf sich gestellt waren und schauen mussten, wie sie zurechtkommen.

Ach so, Frau Smend. Es ist kein Wunder, dass ihr Sohn Axel so schlecht in der Schule ist, als 'Sohn eines Verräters'.

Auch nach dem Krieg – und besonders in der BRD – wurden die Familien der Widerstandskämpfer noch lange als "Verräter" stigmatisiert. Wie haben Sie das als Kind erlebt?
 
Das erste Mal, dass ich das selber am eigenen Leibe erfahren habe, war im Jahr 1954. Meine Mutter besuchte regelmäßig die Elternsprechtage, weil ich ein schlechter Schüler war. Und da sagte der Lehrer zu meiner Mutter: "Ach so, Frau Smend. Es ist kein Wunder, dass ihr Sohn Axel so schlecht in der Schule ist, als 'Sohn eines Verräters"'.
 
Als meine Mutter vom Elternsprechtag zurückkam, da hatte sie einen besonderen Glanz in den Augen, den sie sonst eigentlich nicht hatte. Meine Mutter war eigentlich hart im Nehmen. Und ich ahnte, dass irgendetwas vorgefallen war, was nicht mit meinen Schulleistungen zu tun hatte. Sicherlich hat sie mir dann erklärt, was der Lehrer gesagt hat. Ich bezweifle, ob ich das mit zehn Jahren verstanden habe, aber es nistete sich sofort in meinem Unterbewusstsein ein. Und seitdem hat mich das auch nicht mehr losgelassen.

Was zeichnet Ihrer Meinung nach die widerständigen Männer und Frauen aus, denen am 20. Juli gedacht wird?
 
Eine Durchsetzungskraft und eine Loyalität zu sich selber, nämlich an einer ganz bestimmten Grenze Halt zu machen, nein zu sagen, auf die innere Stimme zu horchen, wenn diese sagt: "Es geht nicht mehr weiter." Wissend, dass das – und das ist ganz entscheidend dabei – auch mit Nachteilen und Risiken verbunden sein kann.
 
Wogegen braucht es heute Widerstand?
 
Wir leben zum Glück nicht in einer Diktatur. Aber es gibt natürlich Probleme, das sind der aufkeimende Rechtsextremismus, der aufkeimende Antisemitismus, unsere fragiler gewordene Demokratie. Wir haben vor einigen Jahren gesagt: Man muss wachsam sein. Das war sicherlich richtig. Heute glaube ich, es ist zu wenig, nur wachsam zu sein. Man sollte schon überlegen: Was kann ich selber tun? Und ich glaube, jeder kann etwas tun. Das kann man am Stammtisch machen, in der Schule, in der Universität, im politischen Kreis – dort, wo man persönlich, aber auch beruflich ist. Dort kann man sich für seine Meinungen einsetzen, und sich wehren, auch wenn es Nachteile bringt. Entscheidend ist die Loyalität zu sich selbst, zur eigenen Haltung.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
Das Interview führte Sophia Wetzke.

Sendung: rbb24 Abendschau, 15.07.2024, 19:30 Uhr