Auf Tour mit Streetworkern durch Tempelhof-Schöneberg. (Quelle: rbb)

Berlin Streetworker in Berlin: "Wir sind der der kleine Finger ins Hilfesystem"

Stand: 29.07.2024 06:02 Uhr

Leopoldplatz, Görli, Kotti – es gibt viele Orte in Berlin, die für Drogenkonsum bekannt sind. Anwohner sind oft gestresst von Müll und Menschen, die offen auf der Straße Drogen nehmen. Doch für die Abhängigen gibt es kaum Rückzugsorte. Von Anna Hanke

  • Streetworker regelmäßig für Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -abhängige unterwegs
  • Bahnhöfe sowie City-Toiletten sind klassische Orte, wo Drogenabhängige zu finden sind
  • saubere Konsumutensilien werden verteilt, Kontakte zu "Klienten" aufgebaut

Gut bepackt stehen Alana Hughes und Julian Diederich am S- und U-Bahnhof Tempelhof. Ein Rucksack ist voll mit Spritzen, Alkoholtupfern, Crackpfeifen – verschiedensten Utensilien, damit ihre Klienten, wie die beiden Streetworker die Suchtkranken nennen, sicher ihre Drogen konsumieren können. Denn die Gefahr, sich etwa durch eine verschmutzte Nadel mit Hepatitis C zu infizieren, ist groß.
 
Auf einer grünen Umhängetasche steht in großen Buchstaben "Streetwork": Damit sind die beiden für die Drogenkonsumentinnen und -konsumenten auch schon von weitem zu erkennen. Hier sind Infomaterialen, Wegwerfbehälter für Spritzen, Kondome, Tampons – und auch Sonnencreme verstaut. Auch eine Thermoskanne Kaffee, Wasser, frische Unterhosen und Socken haben sie dabei.

Archivbild: Drogen im Kriminaltechnischen Institut des Landeskriminalamtes Berlin (Foto vom 31.08.2017: Verkaufseinheiten, auch Szene-Kugeln genannt, mit Heroin. Hier werden sie zur Untersuchung geoeffnet). (Quelle: imago/Juergen Blume)
Fast 2.000 Drogenproben im ersten Jahr - Berliner Drug-Checking überlastet

Seit einem Jahr können Berliner kostenlos, anonym und legal Drogen testen lassen. Das Angebot wird so gut nachgefragt, dass hunderte Menschen abgewiesen werden mussten. Von Sabine Müllermehr

Bahnhöfe als klassischer Aufenthaltsort

Hughes und Diederich sind regelmäßig für den Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -Abhängige e.V. in Tempelhof-Schöneberg unterwegs. Die S- und U-Bahnstation sei ein "klassischer Ort, wo wir viele Klientinnen und Klienten von uns antreffen. Das sind gerade auch Kreuze, wo unterschiedliche Linien aufeinandertreffen", erklärt Diederich den Startpunkt der heutigen Tour.
 
Zwischen Backshop und dem Aufgang zur S-Bahn schläft ein Mann, notdürftig mit einem weißen Tuch zugedeckt. Die Streetworker schauen, ob er regelmäßig atmet, stören Schlafende aber ansonsten bewusst nicht, stellen höchstens mal ein frisches Wasser daneben. "Wenn obdachlose Menschen mal zur Ruhe kommen, dann wollen wir sie auch lassen", so Hughes.

City-Toiletten bieten Schutz

Die beiden schauen auf den Bahnsteigen, ob sie dort jemanden antreffen, dann geht es nach draußen. Gezielt steuern sie eine City-Toilette an, klopfen, "Hi, Streetwork - jemand da? Wir sind vom Notdienst, wir haben Folie dabei, Nadeln, Spritzen". Die Abhängigen nutzen die Toiletten häufig, um Drogen zu nehmen. "Weil es ein halbwegs geschützter Raum ist, in den man sich zeitweise einschließen kann, um halbwegs sicher in sicherlich nicht hygienischen Zuständen konsumieren zu können", so Diederich.
 
Für Menschen auf der Straße sei das offene Konsumieren von Drogen sehr schambehaftet, ergänzt Hughes. Nach Ansicht der Streetworker müsste es mehr Rückzugs- und auch Konsumräume geben. Auch Anwohnerinnen und Anwohner würden profitieren, wenn Drogen nicht auf offener Straße genommen werden.

Ein Spritzbesteck mit einer bereits aufgezogenen Heroinspritze (Quelle: dpa/Boris Roessler)
So viele Drogentote in Berlin wie noch nie

Im vergangenen Jahr sind in Deutschland über 2.000 Menschen an Drogen gestorben - mehr denn je zuvor. Auch in Berlin ist die Zahl der drogenbedingen Todesfälle auf einem Allzeithoch.mehr

Streetworker "machen einen Bombenjob"

Die nächste Station der Tour ist das Südkreuz. An einem der Ausgänge steht Konrad, ein kräftiger, bärtiger Mann, dessen Alter schwer zu schätzen ist. Die beiden Streetworker und er kennen sich, entsprechend zugewandt ist auch die Begrüßung. Konrad kommt aus Polen, hat viele Jahre in den USA gelebt, deswegen spricht er sehr gut englisch. Heute braucht er nur etwas Folie und frisches Wasser. Seit zweieinhalb Jahren lebt er in Berlin, seit einem Jahr auf der Straße. Er ist Heroin- und alkoholabhängig.
 
Das Angebot der Streetworker findet er toll, er fände viel Unterstützung, es gäbe Orte, wo er konsumieren könne, "aber was mich ankotzt (pisses me off), ich habe oft versucht, von dem Scheiß (Shit) loszukommen und ich verstehe nicht, warum es so schwer ist, in eine Art Behandlung zu kommen." Da er Pole ist, fehlen ihm die entsprechenden Papiere, die Versicherung.
 
Über die beiden Sozialarbeiter könne er nur "Großartiges" sagen, es seien junge Leute voller Empathie, "sie machen einen Bombenjob, a hell of a job".

Man findet nicht überall Ansprechpartner, die sich wirklich für diese Probleme interessieren und einen nicht abwertend behandeln.

Fehlende Wertschätzung

Hughes und Diederich kennen viele der Menschen, die sie bei ihren Touren antreffen. Beziehungen zu ihnen aufzubauen sei "elementar" für ihre Arbeit, erklärt die Sozialarbeiterin, denn "nur so können wir mit den obdachlosen Menschen Prozesse starten und sie auch ordentlich versorgen." Oft sind die Streetworker die einzigen Personen, die mit den Menschen auf der Straße überhaupt in Kontakt treten.
 
Umso mehr freut sich Hughes über Konrads Lob: "Das ist so mein Antrieb, wenn ich sowas höre. Man erfährt schon wenig Wertschätzung in dem Job von Seiten der Klient:innen aber auch von Seiten der Gesellschaft. Und auch die Bezahlung ist nicht die Beste – und das ist ja auch eine Form von Wertschätzung."

Symbolbild: Eine Frau legt ihren Kopf und ihre Arme auf einem Tisch ab - im Vordergrund sind verschreibungspflichtige Medikamente zu sehen. (Quelle: imago images/Gueillem)
"Diese Mischung mit anderen Substanzen ist wie Russisch Roulette"

Benzodiazepine und Opioide sind Medikamente. Doch immer mehr junge Menschen konsumieren sie ohne Verschreibung. Das Risiko: schnelle Abhängigkeit und die Kombination mit anderen Drogen wie Alkohol, erklärt Suchtberater Arthur Coffin.mehr

Sprachprobleme erschweren die Arbeit

Auf halber Treppe zu einem der Parkhäuser liegt ein Mann auf ein paar Kartons. Freundlich, mit einem Lächeln im Gesicht spricht Hughes ihn auf Englisch an. Langsam setzt sich der Mann auf – ja, einen Kaffee nimmt er gerne – und auch frisches Spritzenmaterial: Der Rucksack wird geöffnet und er zeigt, was er braucht: Spritzen, Kanülen, Alkoholtupfer und steriles Wasser.
 
Viel Verständigung ist nicht möglich, der Mann spricht kaum Englisch oder Deutsch. Das macht es für die Streetworker häufig schwer, mehr als einen oberflächlichen Kontakt zu den Menschen auf der Straße herzustellen, sie auch zu beraten. Im Team bei Notdienst e.V. haben sie zwar eine Kollegin, die türkisch spricht, auch das Spanisch einer anderen Mitarbeiterin würde durchaus häufiger gebraucht. Aber es bräuchte noch viel mehr Sprachen. Hughes und Diederich zählen auf: "Russisch, polnisch, rumänisch, ungarisch, bulgarisch".

Mir ist es wichtig, dass jeder das Recht hat, menschenwürdig behandelt zu werden.

Das Spritzenproblem

Auch an der Yorckstraße kontrollieren die Streetworker zuerst an den Bahnsteigen, ob sie dort obdachlose Menschen antreffen. Dann geht es zu einem der Ausgänge (Yorck-/ Ecke Katzlerstraße). Auf einem kleinen Platz dort steht inzwischen ein spezieller Mülleimer für Spritzen. Der wurde aufgestellt, nachdem hier häufiger benutzte Spritzen entdeckt wurden.
 
Eigentlich gehört es nicht zu den Aufgaben der beiden, den Müll, den Drogenkonsumenten hinterlassen, aufzuräumen, aber wenn sie gebrauchte Spritzen offen herumliegen sehen, dann sammeln sie sie ein. Hughes holt dazu aus ihrer Umhängetasche eine ca. 30 Zentimeter lange Pinzette, mit der sie die Spritzen oder Kanülen aufhebt und anschließend in einer verschließbaren Plastikbox deponiert. Dann desinfiziert sie sich die Hände. Wenn die Box voll ist, kommt sie als Ganzes in den Müll, damit sich niemand verletzen beziehungsweise infizieren kann.
 
Direkt nebenan ist ein kleiner Bolzplatz. Weil hier Kinder spielen, gucken Hughes und Diederich noch einmal gezielt nach gebrauchtem Spritzenmaterial. Sie finden zwar Müll, der auf Drogenkonsum hindeutet, aber keine Spritzen. Für Diederich ein Zeichen, dass der spezielle Mülleimer hilft.

Toilette im Görlitzer Park. (Foto: dpa)
Reinigungstrupps sollen Vermüllung von Toiletten am Görlitzer Park verhindern

Wegen der Verunreinigungen durch die Drogenszene in Kreuzberg wurden zahlreiche Toiletten aufgebaut. Die werden allerdings zum Drogenkonsum genutzt, vermüllt oder zerstört. Nun soll viel Geld helfen - für Reinigung und Sozialarbeit.mehr

"Der kleine Finger ins Hilfesystem"

Schnell gibt es noch einen Kaffee für Bella. Die 23-jährige wohnt in Spandau, und wartet hier gerade auf Freunde. Sie hat schon praktisch alles an Drogen genommen, ist jetzt in einer Substitutionstherapie. Auch sie kennt die Streetworker von Notdienst e.V.: "Ich bin immer wieder bei den Cafés und suche mir da Hilfsangebote. Man findet nicht überall Ansprechpartner, die sich wirklich für diese Probleme interessieren und einen nicht abwertend behandeln."
 
Als Streetworker machen Hughes und Diederich aufsuchende Sozialarbeit. In der Drogenhilfe soll ihre Arbeit der Schadensminimierug und der Überlebenssicherung dienen, wie Hughes erklärt: "Da geht es primär um die Grundversorgung, um die Bereitstellung von sterilen Konsumutensilien, um die Beziehungsarbeit, um die erste Kontaktaufnahme, um die Weitervermittlung, das Bereitstellen von Essen Trinken auch Duschen…" Ihr Kollege unterbricht: "Du hast es mal sehr schön gesagt, dass wir so ein bisschen der kleine Finger ins Hilfesystem sind. Den nimmt man sich, und von da aus kann man weiter in die höherschwelligen Einrichtungen starten."

Archivbild vom 31.08.2017: Ecstasy-Tabletten bei einer Untersuchung im kriminaltechnischen Institut des Landeskriminalamtes Berlin (Quelle: imago images / Jürgen Blume).
Nachfrage nach kostenlosen Drogentests in Berlin bleibt hoch

mehr

Anlaufstelle am Nollendorfplatz

Von der Yorckstraße aus geht es zu Fuß weiter, durch den Nelly-Sachs-Park, auch ein beliebter Aufenthaltsort von Abhängigen, "weil es doch sehr zugewuchert ist links und rechts vom Weg und entsprechend einen guten Sichtschutz bietet um sich mal in Ruhe hinzulegen und zu konsumieren", so Diederich.
 
Am Straßenstrich in der Kurfürstenstraße hält er sich als Mann bewusst im Hintergrund, während Hughes ein paar Frauen freundlich anspricht, ihnen auch Kondome und Tampons anbietet.
 
Die Tour der beiden endet in der Bülowstraße: Gegenüber vom U-Bahnhof Nollendorfplatz betreibt Notdienst e.V. einen Kontaktladen, in dem sich Suchtkranke aufhalten und mit frischem Konsummaterial versorgen können. Es gibt dort Duschen – und natürlich Beratungsangebote.
 
Hughes und Diederich arbeiten an manchen Tagen auch im Kontaktladen. Für sie eine gute Kombination – hier können sie Kontakte zu Menschen von der Straße vertiefen, denen sie auf ihrer Tour von dem Angebot erzählt haben. Sie finden es schade, dass es nicht möglich ist, den Laden täglich zu öffnen.
 
Hughes und Diederich sind jung, sind seit zwei beziehungsweise knapp einem Jahr als Sozialarbeiter auf der Straße unterwegs. Der Job ist anstrengend, aber die Motivation für Hughes ist eindeutig: "Mir ist es wichtig, dass jeder das Recht hat, menschenwürdig behandelt zu werden."

Sendung: rbb24 Inforadio, 29.07.2024, 6:00 Uhr