Obdachlose campieren unter einer Bahnbrücke in Berlin (Quelle: rbb)

Berlin Unangekündigte Räumungen: Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf geht härter gegen Obdachlosencamp vor

Stand: 09.09.2024 19:15 Uhr

Eine Unterführung am S-Bahnhof Charlottenburg ist seit langem Platz für ein größeres Obdachlosencamp. Bislang waren Räumungsaktionen dort stets vorangekündigt, der Bezirk hat das nun geändert. Eine Gefahr für die Menschen, die dort hausen.

Der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf hat in Bezug auf das Obdachlosencamp an der Lewishamstraße die Strategie verändert. Statt vorangekündigter Räumungen wie bisher soll hier künftig auch unangemeldet der Platz gereinigt und kontrolliert werden. Das bestätigte der zuständige Bezirksstadtrat für Ordnung und Verkehr, Oliver Schruoffeneger (Grüne), dem rbb.
 
Bereits seit Mitte August sei der Bezirk zusätzlich zu den regelmäßig stattfindenden Reinigungstouren der Berliner Stadtreinigung (BSR) auch unangekündigt vor Ort gewesen. "Bis auf weiteres" wolle er das weiterverfolgen, so Schruoffeneger. Zuerst hatte die "Berliner Morgenpost" [morgenpost.de, Paywall]) darüber berichtet.

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Bezirksstadtrat: "Gefahr, dass ein richtiges Camp entsteht"

In dem Artikel der Morgenpost heißt es unter Berufung auf den Inhalt einer Ausschusssitzung im Bezirk, zum Sinneswandel sei es gekommen, weil die vergangenen Räumungen teilweise stundenlang dauerten. Schruoffeneger teilte dem rbb nun mit, man habe unter der Unterführung "zunehmende Vermüllungs- und Verwahrlosungstendenzen" ausgemacht. Dieser wolle man entgegenwirken, so Schruoffeneger, "auch wenn es die Obdachlosigkeit nicht verhindern wird und kann".
 
"Wir haben seit Jahren feste Regeln, die heißen, dass man im Winter eine Matratze haben darf und kleinere Dinge, im Sommer aber nicht", sagt Schruoffeneger. Nun seien "mehr und mehr Zelte" aufgebaut worden. "Damit", so der Stadtrat, "gibt es so ein bisschen die Gefahr, dass ein richtiges Camp daraus entsteht. Das wollen wir verhindern." Zudem - so der Bezirksstadtrat, sei dort "seit geraumer Zeit eine Veränderung des Klientels festzustellen mit zunehmendem Drogenkonsum".
 
Die betreffende Unterführung ist eine vierspurige Hauptstraße, die unter den S-Bahn-Gleisen kreuzt. Auf dem Gehweg befinden sich aufseiten des S-Bahnhofs seit langem größere Obdachlosencamps - sie nehmen einen erheblichen Teil des Weges in Anspruch. Teilweise stehen dort auch Möbelstücke. Da die Unterführung durchgehend - wie ein kurzer Tunnel - überdacht ist, bietet sie einen guten Schutz vor dem Wetter.

Obdachlosenhilfe hält "relativ wenig" von unangekündigten Räumungen

Für die Menschen, die dort ihr Camp haben, drohen durch die unangekündigten Räumungen nun schwerwiegende Verluste. Sie könnten ihre wenigen Habseligkeiten wie beispielsweise Schlafsack, Zelt oder einer Schlafunterlage durch die unangekündigten Räumungen verlieren, wenn sie gerade nicht in der Nähe ihrer Camps sind.
 
"Das ist eine Vorgehensweise, die wir aus unserer aufsuchenden Arbeit kennen, dass inzwischen Räumungen nicht mehr vorzeitig angekündigt werden oder angekündigte Termine nicht eingehalten werden", sagt Timo Großmann von der Berliner Stadtmission. Dieser Strategiewechsel sei eine "enorme Belastung" für die Menschen auf der Straße, "weil es für sie keine Alternative gibt", so Großmann. Die Stadtmission halte deshalb "relativ wenig" von der Maßnahme, die nun auch in der Lewishamstraße angewandt werden soll.

Es gibt auch Unterkünfte mit Zuständen, bei denen ich vollkommen nachvollziehen kann, wenn Menschen dort nicht nächtigen wollen.

Bezirk weist auf Angebote hin

Der Bezirk gibt auf Anfrage an, durchaus Angebote zu machen, beispielsweise zur Unterbringung. Grundsätzlich würde in Charlottenburg-Wilmersdorf jeder obdachlose Mensch untergebracht, der dies wünsche, teilt der der Sozialstadtrat Arne Herz (CDU) dem rbb mit. Insgesamt stünden dem Bezirk 3.900 Asog [Allgemeines Sicherheits- und Ordnugnsgesetz, Anm. d. Redaktion]-Unterbringungsplätze zur Verfügung, so Herz. Die Zahl der täglich freien Unterkünften hätte sich aber verringert.
 
Für die berlinweite Situation, was Unterkünfte angeht, sagt Timo Großmann von der Stadtmission: "Leider können wir aus Erfahrung nicht immer bestätigen, dass in jedem Fall ein Angebot zur Unterbringung gemacht worden ist." Stattdessen mache man in letzter Zeit häufiger die Erfahrung, dass Menschen trotz Vorsprache bei Ämtern keine Unterbringung erhalten würden, weil die Plätze fehlten.
 
Es könne außerdem gute Gründe geben, wieso Menschen, die auf der Straße leben, sich gegen eine Notunterkunft entscheiden. Es gebe Unterkünfte, in denen die Menschen keine Wahl hätten, mit wem sie in einem Mehrbettzimmer untergebracht würden. Zudem gebe es Schilderungen von Sicherheitsproblemen in Unterkünften, Angst vor Diebstählen, sagt Großmann. "Es gibt auch Unterkünfte mit Zuständen, bei denen ich vollkommen nachvollziehen kann, wenn Menschen dort nicht nächtigen wollen", sagt er.

Ein Zelt und eine Matratze unter einer Unterführung in der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg. (Quelle: dpa/Schoening)
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Streetwork, Safe Places und Tiny Houses geplant

Der Bezirk stellt es etwas anders dar. Sozialstadtrat Herz schreibt: "Allerdings sind bei manifestierten Obdachlosencamps wie zum Beispiel an der Unterführung Lewishamstraße kaum Personen, die unser Angebot an Unterbringung annehmen." Auch Schruoffeneger sagt, die Angebote wären gestellt worden und würden nicht angenommen.
 
Mittelfristig soll die Situation an Orten wie dem Stuttgarter Platz verbessert werden. Mit einem Modellprojekt, wie Sozialstadtrat Herz mitteilt. "Eine Anpassung der sozialen Infrastruktur durch Streetwork, der Schaffung von Safe Places und Tiny Houses" solle die Rahmenbedingungen verbessern, so Herz.
 
Das Angebot werde sich explizit auch an Menschen mit Drogensucht oder psychischen Krankheiten richten. Für den Bezirk gehören zumindest am Stuttgarter Platz und rundherum die Missstände Obdachlosigkeit und Drogen zusammen. Wann genau das Modellprojekt allerdings starten soll, ist unklar. Ein bisschen dauern wird es noch. Derzeit warte der Bezirk auf die Bewilligung der Investitionsbank Berlin, kommt die, könnte im Januar 2025 ein Entwicklungsprojekt starten, erst anschließend würde sich der Antrag für das Modellprojekt ergeben, schreibt der Stadtrat auf Nachfrage.

"Wir wollen die nicht verdrängen"

Für den kommenden Winter wird das also noch keine Rolle spielen. Da allerdings kündigt Oliver Schruoffeneger an, auch weiterhin Matratzen bei Kälte erlauben zu wollen. Es gehe ohnehin nicht um die dauerhafte Verdrängung, so der Stadtrat. Die Termine würden begleitet von Sozialangeboten. "Wir verbieten nicht, dort zu wohnen. Wir wollen die auch nicht verdrängen", so Schruofeneger. Nur ein Camp könne er im öffentlichen Straßenraum nicht erlauben.

Sendung: rbb24 Abendschau, 09.09.2024, 19:30 Uhr