Symbolbild: Schülerinnen und Schüler während des Unterrichts im Klassenzimmer am 27.06.2024. (Quelle: picture alliance/dpa/Marijan Murat)

Brandenburg Berlin Wie Berlin und Brandenburg präventiv gegen Islamismus vorgehen wollen

Stand: 28.08.2024 16:23 Uhr

Gegen Islamismus hilft laut Experten vor allem Prävention. In der Region werden Vereine und Beratungsstellen gefördert, um die Radikalisierung von jungen Menschen zu vermeiden. Diese findet zunehmend auf Tiktok statt. Von Juan F. Álvarez Moreno

Nach dem Terroranschlag in Solingen haben Politiker von Regierung und Opposition Maßnahmen versprochen, um künftig ähnliche Verbrechen zu verhindern. Dabei ging es um mehr Abschiebungen und um die Verschärfung des Waffenrechts, insbesondere in Bezug auf Messer.
 
Doch langfristig empfehlen Experten, auf Prävention und Deradikalisierung zu setzen. Bund und Länder fordern Programme, die verhindern sollen, dass – überwiegend junge – Menschen zu radikalisierten Islamisten werden.
 
Die islamistische Szene in Berlin hat laut Verfassungsschutz ein Personenpotenzial von geschätzt 2.380 Islamisten. Gewaltbereit seien etwa 970 davon. Das größte Gefährdungspotenzial geht demnach von der afghanischen Terrorgruppierung Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) aus.
 
In Brandenburg geht der Verfassungsschutz in seinem jüngsten Bericht von 220 islamischen Extremisten aus – deutlich weniger als in Berlin. Deutschlandweit gibt es geschätzt 27.200 Islamisten und 500 sogenannte Gefährder – also Menschen, von denen die Sicherheitsbehörden annehmen, dass sie politische Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen könnten.

Menschen legen in der Nähe des Tatorts Blumen und Kerzen zum Gedenken der Opfer nieder am 26.08.2024. (Quelle: picture alliance/dpa/Thomas Banneyer)
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Es gibt keinen klassischen Radikalisierungsweg

Um zu verhindern, dass es mehr werden, wird Islamismus-Prävention auf drei Ebenen betrieben: Bei der primären Prävention geht es darum, demokratische Grundwerte zu vermitteln und vor allem Jugendliche gegenüber extremistischen Ideologien und Gruppen zu stärken.
 
Bei der sekundären Prävention werden gefährdete Gruppen explizit angesprochen, beispielsweise Jugendliche, die in ihrem Alltag mit salafistischen Ansprachen konfrontiert sind.
 
Bei der dritten Ebene handelt es sich um die sogenannte Deradikalisierung: Es geht darum, bereits radikalisierte oder sich radikalisierende Menschen von extremistischen Ideologien und Gewaltbereitschaft abzubringen.
 
"Aus meiner Erfahrung habe ich festgestellt, dass es keinen klassischen Weg gibt, wie man sich radikalisiert", sagt Yunus Yaldiz, Islamwissenschaftler beim Präventionsnetzwerk Ufuq, im Gespräch mit Radio 3 vom rbb. Die Sinnsuche nach Identität und Stabilität spiele bei jungen Menschen eine wichtige Rolle. "Viele suchen auch nach klaren Botschaften in der Welt, die immer komplexer wird und von immer mehr Konflikten beherrscht wird."
 
Der Nahostkonflikt sei momentan ein "Brandbeschleuniger" für alles, was mit Islamismus zu tun habe, sagt Yaldiz. Die Ufuq-Broschüre zum Thema Nahost sei sehr gefragt.

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Berlin gibt fast zwei Millionen Euro für Prävention aus

Eine erste Anlaufstelle für Ratsuchende und Fachkräfte, die befürchten, dass eine Person sich islamistisch radikalisiert, ist die Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) [beratungsstelle-radikalisierung.de]. Die Beratungsstelle nennt mögliche Warnsignale: Eltern können dort anrufen, wenn beispielsweise ein junger Mensch seine bisherige Lebensweise ändert und diese als verwerflich darstellt, sich aus Freundeskreis, Familie oder Klasse zurückzieht oder keine Kritik an der eigenen Auslegung ses Islam zulässt und nur noch in Schwarz und Weiß denkt.
 
In Berlin finanziert das "Landesprogramm Radikalisierungsprävention" neun Projekte aus der Zivilgesellschaft für die Präventions-, Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit. Im Jahr 2024 fließen dafür 1,8 Millionen Euro, wie die Senatsverwaltung für Inneres und Sport auf rbb24-Anfrage mitteilte. War das Programm vor Jahren vor allem damit beschäftigt, die Ausreise junger Berliner in die vom "Islamischen Staat" kontrollierten Gebieten zu verhindern, liege heute der Fokus auf der Präventions- und Ausstiegsarbeit. Die Wirkung der Projekte werde regelmäßig überprüft.

Materialien für die pädagogische Praxis zu Islam, Islamfeindlichkeit, Islamismus und Demokratie , herausgegeben von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und dem Berliner Präventionsprojekt ufuq. (Quelle: IMAGO/Eckhard Stengel)

Bröschuren des Vereins Ufuq.

Erster Schritt: Vertrauen gewinnen

In der Hauptstadt bieten unter anderem die Vereine "Violence Prevention Network" (VPN) und Ufuq Workshops und Fortbildungen zur Prävention von religiös begründetem Extremismus. Das VPN berät auch Eltern und das soziale Umfeld bei islamistischer Radikalisierung. Der Verein begleitet mit seinem Projekt "WadEx" Menschen, die einen Ausweg aus dem Extremismus suchen.
 
Thomas Mücke, Vorstandsmitglied beim VPN, betont die Wichtigkeit der Beratungshotlines. Dort würden die Eltern selbst anrufen, wenn sie merken, dass ihr Kind sich verändert hat, sagte er rbb24 Inforadio. Hinweise kämen auch aus den Vollzugsanstalten, der Schule oder dem Arbeitsplatz.
 
In Solingen habe es – nach jetzigem Wissen – keine Hinweissignale gegeben, der 26-jährige mutmaßliche Täter sei unauffällig gewesen. "Ohne Hinweissignale ist sehr schwer zu arbeiten".
 
Zwei Drittel der Menschen, die Anschläge planen oder durchführen seien sehr jung, teilweise sogar Minderjährige, sagt Mücke. Man versuche mit ihnen in Kontakt zu treten. "Da ist am Anfang erstmal eine Ablehnung da".
 
Beraterinnen und Berater versuchen Mücke zufolge, diese zu überwinden und eine Arbeitsbeziehung aufzubauen. Sie versuchten, der Person andere Sichtweisen zu eröffnen. Zudem suchten sie nach Gründen für die Radikalisierung, so Mücke. "Da geht es oft um die Frage von Anerkennung". Bei der Deradikalisierung werde versucht, dass der betroffene Mensch ihre Gedanken hinterfragt und die Konflikte bearbeitet, die zur Radikalisierung geführt haben.

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In Brandenburg noch im Aufbau

Anders als in Berlin ist in Brandenburg die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit noch im Aufbau, da aus historischen Gründen der Fokus auf Rechtsextremismus lag. 2021 wurde eine Präventionsstrategie verabschiedet. In der Mark koordiniert das Landesdemokratiezentrum "Tolerantes Brandenburg" die Präventionsarbeit im Bereich Islamismus.
 
Ein wichtiger Akteur aus der Zivilgesellschaft ist die Fachstelle Islam, die unter anderem über Islamismus mit Beratungen und Fortbildungen aufklärt. Die Fachstelle wird im laufenden Jahr mit 258.000 Euro gefördert, wie "Tolerantes Brandenburg" auf rbb-Anfrage mitteilte. Das Projekt "Reflect" der Mansour-Initiative, die in Schulen Präventionsarbeit leistet, bekommt demnach 182.000 Euro. "Nach wie vor gilt, dass eine gelungene Integration von Menschen mit Zuwanderungs- und Fluchtgesichte die beste Prävention ist", teilte der Leiter der Koordinierungsstelle, Alfred Roos, mit.
 
In Brandenburg gibt es zwar ein Programm für den Ausstieg aus dem Extremismus, doch es fehlt ein reines Deradikalisierungs-Programm, wie das Brandenburger Innenministerium auf Anfrage mitteilte.

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Online-Radikalisierung auf Instagram und Tiktok

In beiden Bundesländern findet Radikalisierung zunehmend online statt – darin sind sich Experten wie Thomas Mücke oder die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor einig. Kaddor, auch innenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, spricht oft von "Turbo-Radikalisierung" im Internet. Der Verfassungsschutz warnt in einem Bericht vor "salafistischen Influencern", die eine Vorbildrolle für ihre Anhänger einnehmen. Zudem sei zunehmend zu beobachten, wie auf Tiktok islamistische Propaganda als vermeintlich harmlos dargestellt wird. Die erfolgreiche Kurzvideo-Plattform nennt der Verfassungsschutz einen "Brandbeschleuniger" von Radikalisierungsprozessen und spricht von "Tiktokisierung des Islamismus".
 
Das Land Berlin fördert seit Jahren nach Angaben der Senatsverwaltung Projekte im Bereich der Online-Prävention. Eins davon ist das Vorreiterprojekt "streetwork@online", das die Ansätze der Straßensozialarbeit in die Online-Lebenswelten junger Menschen überträgt und dort mit ihnen ins Gespräch geht. Auf Instagram versucht das Projekt "IslamIst", einseitige Perspektiven aufzubrechen, hieß es von der Senatsverwaltung. Zudem gebe es an der Humboldt-Universität ein Forschungsprojekt zum radikalisierenden Potenzial des TikTok-Algorithmus.
 
Egal ob online oder im persönlichen Gespräch: Erfolgreich sei die Präventionsarbeit erst, "wenn wir es schaffen, dass Individuen mehr als eine Perspektive auf ihrem Schirm haben", so der Islamwissenschaftler Yaldiz. Menschen, die für Radikalisierung empfänglich sind, müssten das Gefühl bekommen, dass sie gebraucht und gehört werden. Auch Menschen, die in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, brauchen laut Yaldiz gute Sozialarbeiter. "Leute, die ihnen zuhören, mit ihnen sprechen", so Yaldiz. "So dass sie gar nicht das Gefühl bekommen, dass irgendwer ihr Feind ist, dass es gute und böse oder Muslime und Nicht-Muslime gibt, die gegeneinander kämpfen müssen."

Sendung: Radio 3, 27.08.2024, 7:10 Uhr