Charlotte steht auf einer Straße im Senegal - im Hintergrund Pferdekutschen.

Hessen Abiturientin trampt durch Afrika und Europa: "Per Anhalter reisen ist wie ein Sprung ins Unbekannte"

Stand: 27.06.2024 11:33 Uhr

Per Anhalter durch Europa und Afrika – dafür hat sich Charlotte Claudi aus Waldsolms nach ihrem Abitur entschieden. Von ihren 20.000 Kilometer "on the road" und ihrer "Angst vor dem ersten Schritt" berichtet sie im Interview.

Daumen raus und warten, bis jemand hält. Wer per Anhalter unterwegs ist, braucht Zeit, Mut und darf keinen Luxus erwarten. Eigentlich nicht die typische Art, nach dem Abitur eine Weltreise zu begehen - führt es die meisten jungen Reiselustigen nach dem Abitur doch eher per Flugzeug zu Traumzielen. Charlotte Claudi aus Waldsolms (Lahn-Dill) hat sich anders entschieden. 

Soeben kehrte die 20-Jährige nach knapp einem Jahr von einer Reise durch Europa, Nord- und Westafrika zurück. Claudi reiste allein und überwiegend per Anhalter. Im Interview spricht sie über das Überwinden von Ängsten, prollige Jungs in dicken Autos und darüber, was sie an Hessen vermisst hat. 

hessenschau.de: Frau Claudi, wie kamen Sie auf die verrückte Idee, zwölf Länder per Anhalter zu bereisen?

Charlotte Claudi: So verrückt ist sie gar nicht. Eigentlich wollte ich mein Studium beginnen, Psychologie in Hamburg, habe aber eine Absage bekommen. Und auch wenn das anfangs nicht der Plan war, habe ich deswegen beschlossen zu reisen.

Per Anhalter deshalb, weil ich vor einigen Jahren eine Doku darüber gesehen habe. Seitdem war ich davon fasziniert und habe mich in dieser Art des Reisens wiedererkannt. Ich wusste nicht, wie lange die Reise geht - ob es ein Jahr oder länger wird, aber bin dennoch los.

hessenschau.de: Mit wie viel Aufregung?

Claudi: Mit sehr viel! Die Angst vor dem ersten Schritt war groß, und ich hatte Respekt vor dieser Art zu reisen, weil ich es vorher erst ein paar Mal gemacht hatte. Per Anhalter reisen ist wie ein Sprung ins Unbekannte. Meine Ängste, dass mir dabei etwas zustoßen könnte oder ich die Reise überhaupt nicht schaffe, weil niemand anhält, haben sich aber alle als nicht realistisch entpuppt.

hessenschau.de: Wirklich? Ist nie etwas passiert, bei dem Sie sich unsicher gefühlt haben?

Claudi: Auf über 20.000 Kilometern, die ich getrampt bin, nicht ein Mal. Das ist für mich eine der größten Erkenntnisse auf dieser Reise gewesen. Wichtig ist es aber, auf das eigene Bauchgefühl zu hören und auch mal nicht einzusteigen, wenn jemand angehalten hat, der mir suspekt war.

Als ein Mercedes mit mehreren Jungs und lauter Musik vor mir hielt, habe ich lieber abgelehnt und das nächste Auto genommen. Das war allerdings noch in Hessen. (lacht)

Wichtig ist es, auf das eigene Bauchgefühl zu hören.

hessenschau.de: Blicken wir auf Ihre Route. In Waldsolms im Lahn-Dill-Kreis haben Sie angefangen. Dann ging es nach Süddeutschland auf einen Bauernhof, auf dem Sie mitgeholfen haben - weiter über Frankreich und auf den Jakobsweg zum Pilgern. Das heißt, Sie sind auch gewandert?

Claudi: Zwei Monate lang, ja. Der Jakobsweg hat mich geprägt, ich konnte viel über mich persönlich nachdenken. Das ging so weit, dass ich meinen Studienwunsch geändert habe. Kein Psychologie-Studium mehr, denn eine möglicherweise belastende therapeutische Arbeit mein Leben lang konnte ich mir nicht mehr vorstellen.

Ich habe mittlerweile einen Studienplatz in Toulouse bekommen und werde bald Angewandte Sprachwissenschaften studieren. Den Jakobsweg kann ich jedem nur empfehlen. Es ist ein unglaublich schöner Weg.

hessenschau.de: Später sind Sie über die Kanarischen Inseln nach Marokko gereist.

Claudi: Auf den Kanaren habe ich vor allem Aussteiger kennen gelernt, denen das Leben - auch in Deutschland - zu hektisch wurde. Aber um auf die Inseln und zurück zu gelangen, musste ich dann doch das Flugzeug nehmen. Anders hatte ich keine Möglichkeit, über das Mittelmeer zu kommen.

In Marokko war ich im Atlas-Gebirge und in kleinen Bergdörfern wandern, bin über die Westsahara und Mauretanien in den Senegal getrampt und habe dort bei einer Familie eine Woche in Saint-Louis gewohnt und war danach südlich von Dakar wieder auf einem Bauernhof.

Zurück bin ich den ganzen Weg nordwärts nach Europa getrampt. Nach Frankreich, dann nach Hause. Gerade der Rückweg hat mein Weltbild noch mal massiv verändert.

hessenschau.de: Inwiefern?

Claudi: Wie finanziell reich und doch menschlich arm Europa manchmal ist - das war für mich der größte Kulturschock. Ich kam von Marokko zurück nach Gibraltar in Spanien und sah plötzlich wieder schicke Häuser, keine klapprigen Autos mehr, dafür aber viel mehr menschliche Kälte. Die Gastfreundlichkeit nahm ab. Ich stand oft stundenlang mit dem Daumen an der Straße, und niemand hielt.

Europa ist finanziell reich, aber menschlich arm - das war ein Kulturschock für mich.

hessenschau.de: Wie haben Sie die Reise finanziert?

Claudi: Mit Erspartem, und meine Eltern haben mich etwas unterstützt. Trampen ist eine sehr sparsame Art zu reisen, zudem habe ich oft im Zelt geschlafen - entweder in der Wildnis oder ich habe bei Hausbesitzern gefragt, ob ich es in deren Garten aufbauen kann. Mit einem Tagesbudget von circa fünf bis zehn Euro kam ich gut aus.

hessenschau.de: Was haben Sie an Hessen am meisten vermisst? Das Essen? Die Landschaft? Die Bahnanbindung?

Claudi: Vor allem der Wald, den wir hier in Mittelhessen haben, hat mir sehr gefehlt. Ich war dort gestern das erste Mal wieder joggen, und es war so schön, in dieses bekannte Gebiet zurückzukommen, wo ich alle Wege auswendig kenne. Aber am meisten habe ich natürlich meine Familie und Freunde vermisst.

hessenschau.de: Würden Sie wieder per Anhalter reisen?

Claudi: Auf jeden Fall - ich möchte ja meine Reise spüren und mich nicht nur per Flugzeug irgendwohin beamen lassen. Es ist schade, dass es für viele so verrückt scheint oder dass man wie ein Alien wahrgenommen wird, wenn man den Daumen heraushält.

Ich kam allein dadurch den Menschen so nahe, hatte tolle Gespräche und Begegnungen. Es war das Per-Anhalter-Fahren, was meiner Reise so viel Sinn gab.

hessenschau.de: Welche sind Ihnen im Kopf geblieben?

Claudi: Etwa Polizisten, die in der Westsahara mitten in der Wüste alles darangesetzt haben, mir eine Mitfahrgelegenheit zu besorgen, weil sie so interessiert an meiner Art zu reisen waren. Oder eine marokkanische Familie, die mich spontan zum Zuckerfest eingeladen hat, oder zwei rumänische Bauarbeiter, die mich über 600 Kilometer mitgenommen haben und in ihrem 15-Mann-WG-Haus haben übernachten lassen.

Per Anhalter zu fahren, hat meiner Reise so viel Sinn gegeben.

hessenschau.de: Das scheint so, als lief alles rund. Hat auch mal was nicht geklappt?

Claudi: Erstaunlich wenig. Bei Grenzübergängen in Afrika war es manchmal komplizierter. So war etwa die Grenze zwischen der Westsahara und Mauretanien geschlossen. Mit einer Gruppe von Schweizern habe ich mich dann zusammengetan, um ein Visum zu beantragen. Das dauerte dann zwar, hat aber am Ende dennoch gut funktioniert.

Mit diesen Schweizern bin ich auch noch in die Wüste zum Campen in Mauretanien gefahren. Aber nach vier Tagen hatte ich wirklich genug vom Sand. In jeder Ritze, überall war Sand. Am Anfang ist das noch wunderschön, aber dann habe ich mich nach der Savanne im Senegal gesehnt.

hessenschau.de: Sie haben sich vorgenommen, nur per Anhalter zu reisen. Was raten Sie anderen, die das auch ausprobieren möchten?

Claudi: Nicht verkrampft zu sein. Natürlich klappt es nicht immer - und ich musste auch ein paar Mal einen Bus nehmen, um etwa aus einer größeren Stadt rauszufahren. Von dort war es per Anhalter leichter weiterzureisen.

Innerhalb einer Stadt ist es manchmal nicht so einfach. Im Endeffekt lebt es sich leichter, wenn man Ausnahmen zulässt, und sich den Spaß dabei beibehält.