Banner auf einem großen Strohballen, der auf einem Acker steht, mit der Aufschrift: "Rettet die Jossolleraue - Wer Straßen baut, wird Verkehr ernten".

Hessen Reiskirchen: Ortsumgehung der B49 kommt, der Streit geht weiter

Stand: 12.09.2024 19:24 Uhr

Rund zwanzig Jahre hat die Planung gedauert, bald rollen die Bagger: Die Ortsumgehung der B49 bei Reiskirchen soll die Anwohner entlasten. Kurz vor Baubeginn regt sich trotzdem verstärkter Protest.

Lieferwagen, Berufspendler, Anwohner – auf der B49 in Reiskirchen (Gießen) schlängeln sich jeden Tag tausende Autos durch den Ortskern und den dörflichen Ortsteil Lindenstruth. Doch das soll sich bald ändern.

Protest gegen B49-Ausbau bei Reiskirchen

Anfang des Jahres soll die neue Ortsumgehung gebaut werden. Das sorgt allerdings für Konflikte. Die B49 soll dann zwar nicht mehr durch die Ortschaften führen, dafür aber durch eine Naturlandschaft im Süden Reiskirchens.

Juristisch ist das Projekt mittlerweile besiegelt. Kurz vor Baubeginn regt sich trotzdem verstärkter Protest: Umweltschützer und betroffene Anwohnerinnen und Anwohner wehren sich mit Bannern an der Straße. Es gibt zudem Demonstrationen und Bürgerversammlungen.

FFH-Gebiet im Süden der Trasse

Ihr Hauptargument ist der Schutz der Jossolleraue im Süden der geplanten Ortsumgehung. Das Feuchtgebiet ist Lebensraum für seltene Tiere und Pflanzen und als sogenanntes FFH-Gebiet nach EU-Vorgaben besonders geschützt.

Das Land Hessen ist dadurch "zum Erhalt und der Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes" verpflichtet und setzt seit Jahren ein umfangreiches Maßnahmenpaket durch. Teilweise wird das FFH-Gebiet nun in der "Wirkzone für indirekte Beeinträchtigungen" liegen, wie es den Unterlagen des Bauprojekts heißt.

Die genaue Straßenführung war jahrelang diskutiert worden. Schließlich wurde der Variante südlich von Reiskirchen der Vorzug gegeben – obwohl sie aus ökologischer Sicht mehr Probleme aufwirft als eine nördlich verlaufende Umgehung.

Karte Umgebung von Reiskirchen mit der Fläche der Jossolleraue, der B49 und der geplanten Ortsumgehung

Das geplante B49-Teilstück verläuft im Süden Reiskirchens

Auch ein Bürgerbegehren wurde 2009 dazu in Reiskirchen durchgeführt. Das Ergebnis: Zwei Drittel der Stimmen gingen zugunsten der Südvariante.

Kritik der Umweltschützer

Vor Ort kämpft dagegen allen voran Jörg Bergstedt, ein seit vielen Jahren regional bekannter Umweltaktivist aus dem Nachbarort Reiskirchen-Saasen. Bergstedt hat sich schon gegen andere Bauprojekte engagiert – etwa den Weiterbau der A49 durch den Dannenröder Forst.

"Die Straße darf nicht gebaut werden", sagt Bergstedt nun. Er meint: Dadurch werde Natur zerstört, die Jossolleraue und zwei Waldgebiete würden vom Umland abgeschnitten. Zudem löse die Ortsumgehung das Verkehrsproblem nicht, sondern verschiebe es nur.

Anlieger müssen Flächen abgeben

Unter den Ausbau-Gegnern sind aber auch Anwohner, die durch die neue Straße beeinträchtigt werden. Ein Wohnheim für psychisch kranke Menschen sorgt sich etwa um die Lebensqualität für die Bewohner, weil die dann direkt an der Umgehung leben werden.

Die Flächen eines Reiterhofs wird die neue Trasse sogar durchschneiden. Rund drei Hektar Land verliert der Hof. Besitzerin Carmen Grieb hatte gemeinsam mit einem Umweltverband dagegen geklagt – erfolglos.

Frau vor Pferden

Carmen Grieb fürchtet um die Existenz ihres Hofs

Grieb sagt nun im Gespräch mit dem hr: Sie wisse nicht, ob ihr Hof überhaupt weiter existieren könne. Sie habe zwar eine Ausgleichsflächen zugestanden bekommen, die sei aber größtenteils zu nass, um Pferde darauf weiden zu lassen. "Ich könnte dann nur noch wenige Pferde halten", sagt sie.

Streit um Verkehrsprognose

Die Ausbau-Gegner werfen der ausführenden Behörde Hessenmobil außerdem vor, mit veralteter Datengrundlage zu arbeiten. Sie meinen: Die Planung basiere auf Prognosen aus dem Jahr 2005. Der Verkehr in Reiskirchen und Lindenstruth habe in den vergangenen Jahren aber sogar abgenommen, das zeige eine aktuellere Hochrechnung aus dem Jahr 2014.

Tatsächlich waren 2005 beispielsweise für Lindenstruth für das Jahr 2020 mehr als 13.000 Fahrzeuge im Jahr prognostiziert wurden. Die Prognose von 2014 errechnete für 2025 deutlich weniger, rund 8.100 Fahrzeuge am Tag.

Hessenmobil widerspricht der Argumentation trotzdem. Auf hr-Anfrage heißt es: Die Planung sei zwar mit den Zahlen von 2005 begonnen worden, der Beschluss enthalte aber auch die aktuellere Hochrechnung von 2014.

Ortsvorsteher: "Die Belastung ist einfach zu hoch"

Prognose hin oder her: Gerhard Albach (Freie Wähler) sind die genauen Zahlen gar nicht so wichtig. Der Ortsvorsteher von Lindenstruth ist direkt an der B49 aufgewachsen. Er kann über die Argumentationen der Ausbau-Gegner nur den Kopf schütteln.

"Die Zahlen, ob die mehr oder weniger werden – das ist mir vollkommen egal", sagt er. "Die Belastung ist einfach zu hoch." Albach zeigt auf einen Kindergarten in der Nähe. "Da laufen morgens Kinder entlang und da fahren ein paar Tausend Autos."

Auch für Reiskirchens Bürgermeister Dietmar Kromm (parteilos) ist das alles keine Frage mehr. "Für mich ist das eindeutig", sagt er. "Wir haben hier zu viel Lärm in Reiskirchen und auch in Lindenstruth – da brauchen wir nicht über Zahlen zu reden."

Frau vor Pferden

Ortsvorsteher Gerhard Albach ist an der B49 aufgewachsen

Er meint: Die Südumgehung sei einerseits für die Entlastung der Anwohnerinnen und Anwohner wichtig, aber auch um eine bessere Verbindung für Pendler aus der Region zu schaffen.

VGH für Südumgehung

Der Planfeststellungsbeschluss für die Südumgehung ist rechtsgültig, der Hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel entschied 2022, das Bundesverwaltungsgericht lehnte eine Revision ab.

Vorteile der Südvariante sind laut Beschluss: Sie sei günstiger im Bau, weil weniger Brücken gebraucht werden. Außerdem ermögliche sie eine "attraktive Einbindung" in das südliche Straßennetz und beeinträchtige auch nicht die geplante Erweiterung von Gewerbe- und Wohngebieten im Norden der Gemeinde.

Zwar erkannte das Gericht an, dass die Südvariante mehr Eingriffe für die Natur mit sich bringt. Dennoch seien "naturschutzrechtliche Betroffenheiten angemessen ermittelt und bewältigt worden", heißt es. Auch die Fortführung des Reiterhofs seit weiter möglich, so die Richter.

Baubeginn im Januar geplant

Viele Jahre später als ursprünglich geplant soll nun im Januar in Reiskirchen Baubeginn sein. Die Baufreigabe steht allerdings noch aus. Ob der Protest der Ausbau-Gegner daran etwas ändern wird, ist fraglich.

Sie wollen trotzdem weiter gegen die Umgehung kämpfen, sagen sie. Für die kommenden Wochen sind bereits mehrere Protest- und Informationsveranstaltungen angekündigt.