Collage aus zwei historischen Fotos: Im Vordergrund ein ausgeschnittenes Portrait einer jungen Frau, die am Tusch sitzt - hellblau umrandet. Im Hintergrund ein Stadtansicht.

Hessen Durch die Hintertür: Wie sich die ersten Frauen einen Platz an der Uni Marburg erkämpften

Stand: 12.07.2024 14:52 Uhr

Seit 1908 dürfen Frauen in Hessen offiziell studieren. Doch schon Jahre vorher erkämpften sich einige gegen viele Widerstände einen Platz als Gasthörerinnen an der Uni Marburg. Denn ob sinkendes Niveau, potentielle Liebschaften oder kein Abitur - die Argumente gegen Frauen an der Uni waren vielfältig.

Von Rebekka Dieckmann

"Euere Excellenz!"

Als Natalie Wickerhausen im Mai 1895 einen bittenden, aber durchaus selbstbewussten Brief an den preußischen Kultusminister schreibt, hat sie ein klares Ziel: die Uni Marburg. Doch um dort studieren zu dürfen, muss die Lehrerin an einer Mädchenschule erst mal einige mächtige Männer von sich und ihren Fähigkeiten überzeugen.

Offiziell immatrikulieren dürfen sich Frauen damals nämlich noch nicht. Aber seit wenigen Monaten gibt es in Preußen einen Weg durch die Hintertür in den Hörsaal: Mit Sondererlaubnis können Frauen wie Wickerhausen Gasthörerinnen werden - sie müssen allerdings weiterhin gegen viele Widerstände kämpfen.

Ehemalige Frauenbeauftrage schreibt Buch

Erst 1908 wurde das Frauenstudium an den heutigen hessischen Universitäten eingeführt. Während die Geschichten der ersten "echten" Studentinnen in Deutschland bereits aufgearbeitet wurden, widmet sich nun eine neue Fachpublikation aus Marburg den Frauen, die dafür schon Jahre vorher den Weg ebneten.

Geschrieben hat das Buch über die "Vorkämpferinnen an der Alma Mater Philippina" die Pädagogin Silke Lorch-Göllner, die fast 20 Jahre Frauenbeauftragte der Marburger Philipps-Universität war.

Frauenstudium in Hessen

In Deutschland war man mit dem Frauenstudium vergleichsweise spät dran. In vielen Teilen Europas und in den USA durften Frauen schon seit Mitte des 20. Jahrhunderts regulär studieren. 1908 führten sowohl das Großherzogtum Hessen-Darmstadt mit den damaligen Hochschulen Gießen und Darmstadt, als auch Preußen, wozu Marburg gehörte, das Abitur und die Möglichkeit zur Immatrikulation an Universitäten für Frauen ein. Die schon seit 1895 bestehende Gasthörerinnen-Regelung existierte allerdings nur in Preußen - im heutigen Bundesland Hessen also nur in Marburg. Die Universitäten Frankfurt und Kassel sowie alle anderen hessischen Hochschulen waren damals noch nicht gegründet.

Erniedrigendes Verfahren

Die Hürden für die Vorreiterinnen waren hoch. Die Frauen mussten zunächst beweisen, dass sie qualifiziert genug für den Hörsaal waren und brauchten dafür zahlreiche Genehmigungen: vom Ministerium und vom Hochschul-Rektor. Schließlich mussten sie sogar die Zustimmung von jedem einzelnen Dozenten einholen. Als "erniedrigendes Verfahren" beschreibt es Loch-Göllner.

Die Autorin konnte bei ihrer Recherche verschiedene Faktoren ausmachen, warum Frauen abgelehnt wurden. Zwar sei die Politik durchaus offen gewesen, aber besonders innerhalb der konservativen preußischen Professorenschaft sei eine tiefsitzende Skepsis verbreitet gewesen. "Es gab immer wieder Umfragen vom Ministerium dazu und die preußischen Universitätsleitungen und damit auch die Professoren lehnten das Frauenstudium ab", erklärt sie.

Schwarz-Weiß-Fotografie von neun Menschen in einem Labor. In der unteren Reihe mittig sitzt eine Frau.

Clara Langenbeck (mittig) hatte in den USA bereits als Biologin geforscht

Befürchtung: Frauen senken das Niveau

Die konkreten Gegenargumente seien durchaus vielfältig gewesen: In der Medizin sei zum Beispiel angeführt worden, dass man nicht über möglicherweise schambehaftete anatomische Details vor einer gemischten Zuhörerschaft reden wollte.

Andere Professoren hätten potentielle Liebschaften unter Studierenden befürchtetet. "Da war dann die Rede von Küssen nach der Vorlesung", berichtet Loch-Göllner. Und immer wieder sei auch angeführt worden: Man fürchte, Frauen an der Universität würden das Niveau insgesamt senken.

Vorkämpferinnen an der Alma Mater Philippina

von Silke Lorch-Göllner
Waxmann Verlag
32,90 Euro

"Ich wage die ergebene Bitte zu stellen"

Auch Natalie Wickerhausen war mit ihrem Gesuch bereits abgeschmettert worden. Der damalige Rektor der Marburger Universität galt als erklärter Gegner des Frauenstudiums und hatte ihr den Zugang als Gasthörerin zunächst verwehrt.

In ihrem Brief an den Kultusminister listete sie also ihre akademischen Leistungen auf. Schließlich bat sie: "Ich wage also an Euere Excellenz die ergebene Bitte zu stellen, mich als Hörerin an die Philosophische Fakultät der Universität von Marburg in Hessen zuzulassen, von welcher gnädigen Erlaubniß ich das erst Mal im Monat Juli 95 hindurch Gebrauch machen würde."

Kein Abitur – kein Studium?

Das große Problem der damaligen Frauen: Wie sollten sie überhaupt auf den erforderlichen akademischen Stand kommen, der an den Unis erwartet wurde – in Zeiten, in denen selbst höhere weibliche Bildungskarrieren in der 9. oder 10. Klasse endeten?

Denn: Gymnasien und damit auch das Abitur waren bis dato Jungen vorbehalten. Staatliche Bildungseinrichtungen verfolgten das erklärte Ziel, Mädchen auf ihre häusliche Rolle vorzubereiten. Schwerpunkt: Sprachen und Handarbeit.

Viele Gasthörerinnen kamen aus dem Ausland

Viele der ersten Gasthörerinnen hatten ihre Kenntnisse deshalb an privaten Institutionen erworben oder kamen aus dem Ausland. Auch Natalie Wickerhausen war in Kroatien geboren und ausgebildet worden.

Clara Langenbeck, die Tochter eines amerikanischen Apothekers, hatte in den USA einen Bachelorabschuss gemacht und als Biologin geforscht. Ab 1896 studierte sie dann vier Semester an der Universität Marburg Medizin und Chemische Physiologie.

Zugang zu Bildung nur für Lehrerinnen möglich

In Preußen ermöglichte zu dieser Zeit ein einziger Berufszweig jungen Frauen Zugang zu höherer Bildung: Lehrerin – zumindest so lange sie unverheiratet waren. Nach ein oder zwei-jähriger Ausbildung wurden die Lehrerinnen zwar nicht mit ihren männlichen Kollegen gleichgesetzt – sie wurden schlechter bezahlt und durften nur niedrigere Klassen unterrichten – doch sie hatten nun die Chance, mit ihrer Vorbildung als Gasthörerinnen zugelassen zu werden.

Auch Marburger Lehrerinnen gehörten daher zu den Vorkämpferinnen an der Uni. Sie unterrichteten an der höheren Töchterschule, der heutigen Elisabethschule. Schulleiterin Hedwig Jahnow studierte beispielsweise Theologie. Sie wurde später zudem als erste Frau Stadträtin in Marburg. Aufgrund ihrer jüdischen Vorfahren wurde sie von den Nazis deportiert. Sie verhungerte 1944 in Theresienstadt.

Eine bekannte Marburger Studentin der ersten Stunde war auch die Marburger Lehrerin Alix Westerkamp, die 1907 sogar promovierte – als erste Frau in Deutschland an einer juristischen Fakultät überhaupt.

Schwarz-Weiß-Fotografie von neun Menschen in einem Labor. In der unteren Reihe mittig sitzt eine Frau.

Vier der hier abgebildeten Lehrerinnen der höheren Mädchenschule waren Gasthörerinnen an der Uni, Hedwig Jahnow sitzt als 2. von links (Foto von 1910)

202 Frauen als Gasthörerinnen eingeschrieben

Insgesamt blieb die Zahl der Gasthörerinnen allerdings in diesen frühen Jahren noch recht niedrig. Zwischen 1895 und 1908 schrieben sich 202 Frauen in Marburg als Gasthörerinnen ein. Mehr als die Hälfte kamen aus dem Ausland, vor allem aus England und den USA. Nur jede zehnte von ihnen war verheiratet, viele kamen aus Akademikerhaushalten.

Silke Lorch-Göllner resümiert dennoch: Trotz der erschwerten Bedingungen hätten relativ viele Frauen ihre Studienziele erreichen können.

Erste Gasthörerin in Marburg wurde jedenfalls im Jahr 1895 tatsächlich Natalie Wickerhausen. "Seine Excellenz", der Kultusminister, hatte festgestellt, dass ein "ein Bedenken nicht herzuleiten" sei. Auch der Marburger Rektor musste also fortan Frauen im Hörsaal dulden.

Historisches Dokument in Schreibschrift

Erlass des preußischen Kultusministers von 1895: Natalie Wickershausen wurde als Gasthörerin in Marburg zugelassen

Über Wickerhausens weiteren Lebensweg ist weiter nichts bekannt. Nur so viel: Sie blieb wohl ein Semester in Marburg und mit ihr schrieb sich noch eine englische Lehrerin ein. Von ihr kennt man noch nicht einmal den Vornamen.