Hessen Aus der DDR in den Westen: Verrückte Flucht durch Eisernen Vorhang und Minenfeld
Vor 60 Jahren hat sich eine der wagemutigsten Flucht-Geschichten an der Grenze von Hessen ereignet. Mit einer Kneifzange bahnte sich Berthold Dücker den Weg von der DDR in die Bundesrepublik in die Freiheit.
Es ist die Geschichte seines Lebens. Wenn sie schiefgelaufen wäre, hätte Berthold Dücker womöglich nicht überlebt. Oder er wäre zumindest gefangen genommen worden an der innerdeutschen Grenze - damals, im Jahr 1964.
60 Jahre es das mittlerweile her - ein Jubiläum für Dücker. Der heute 77-Jährige wagte als Jugendlicher eine verrückte Flucht aus der DDR in die BRD. Er robbte mit einer Kneifzange in der Hand durch ein Minenfeld an der Grenze von Thüringen nach Hessen. Er riskierte dabei sein Leben für die Freiheit.
"Geschichte ist auf ewig in meinem Kopf"
In diesen Tagen, wenn es auf den Gedenktag des Mauerfalls am 9. November vor 35 Jahren zugeht, wird ihm diese waghalsige Aktion besonders bewusst. "Diese Geschichte ist auf ewig in meinem Kopf", sagt Dücker. Man könnte ihn wahrscheinlich nachts um drei Uhr wecken - er würde alles erzählen, als ob es gestern war.
Dücker lebte damals in Geismar in Thüringen. Der Bauernhof der Familie befand sich nicht weit entfernt von der Grenze der damaligen DDR zur BRD. Die Grenze war als Eiserner Vorhang gefürchtet. Ost und West waren getrennt - wegen der politischen Machtblöcke von NATO und Warschauer Pakt - durch einen Grenzwall mit Sperranlagen und Stacheldraht.
Die Grenze wurde für viele Menschen auch zum Todesstreifen. Hunderte verloren im Laufe der Jahrzehnte ihr Leben, als sie versuchten aus der abgeschotteten DDR-Diktatur in den freien Westen zu fliehen, wie die Stiftung Berliner Mauer mitteilte.
Streben nach Freiheit stärker als die Angst vor dem Tod
Diese Gefahr war Berthold Dücker auch damals schon bewusst. Doch weil sein Drang nach Freiheit und einem selbstbestimmten Leben größer als die Angst war, entschloss er sich, auf eigene Faust in den Westen zu fliehen. Ohne seine Familie. Die hatte er in seine Fluchtpläne nicht eingeweiht.
Der Tag, an dem die Gelegenheit günstig erschien, war der 24. August 1964. Er schlich sich mit einer Kneifzange aus dem Werkzeugkasten seines Vaters zur Grenze. Dort knipste er den Stacheldraht durch und robbte durch das Minenfeld.
Mit dem Griff der Zange stochert er in den Erdboden, um womöglich die Sprengkörper ertasten zu können. "Das war Wahnsinn. Aber ich habe es überstanden und hatte eine Heerschar von Schutzengeln", erinnert sich Dücker.
In Fulda wurde seine Lebenstraum zur Realität
Im Westen angekommen, versteckte er sich an einem Viehunterstand und wartete. Als zufällig ein Bauer mit seinem Traktor vorbeikam, war er gerettet. Dücker kam danach in ein Aufnahmelager nach Gießen.
Dann zog es ihn nach Fulda. Dort verwirklichte er seinen Traum, Journalist zu werden. Bei der damaligen "Fuldaer Volkszeitung" begann er mit 17 seine Ausbildung als Volontär.
Dem Journalismus blieb Dücker ein Leben lang treu. Nach der Wiedervereinigung wurde er Chefredakteur der "Südthüringer Zeitung". 1993 kehrte er in den Osten zurück. Er lebt in Geisa. Treu blieb er auch seinem Lebensthema: deutsche Teilung und Wiedervereinigung.
Er engagierte sich für den Erhalt des damaligen US-Militärcamps an der Grenze zwischen Rasdorf (Fulda) und Geisa. Er sorgte dafür, dass Point Alpha zu einer Gedenkstätte wurde, die jedes Jahr zehntausende Besucher anzieht.
Kneifzange als Ausstellungsstück im Museum
Noch heute führt Dücker Besucher an Point Alpha herum. In der dortigen Dauerausstellung ist auch seine Geschichte als Zeitzeuge verewigt. In einer Glasvitrine ist die Kneifzange zu sehen, die ihm den Weg in den Westen bahnte, und der Blaumann, den er damals trug.
Berthold Dücker
Dücker hat sich jahrzehntelang für Point Alpha in verschiedenen Positionen engagiert. Die Einrichtung ist als Gedenkstätte, Museum und Bildungsakademie etabliert. Doch Dücker meint, dass Politik und Gesellschaft nicht die nötigen Lehren aus der deutschen Geschichte ziehen.
Deutschland habe mit den Nationalsozialisten erst eine braune und später mit den DDR-Machthabern eine rote Diktatur erlebt. Und dennoch komme es heutzutage zu einem Aufkeimen von Extremismus und den Wahlerfolgen der rechtsgerichteten AfD. Dass auch viele junge Menschen ihr Kreuzchen dort machten, bereite Dücker Sorgen.
"Staatsversagen der Kultuspolitik"
In Deutschland werde sich offenbar noch immer nicht ausreichend mit den Gefahren von Diktaturen auseinandergesetzt, meint Dücker. "Ich nenne das Staatsversagen der Kultuspolitik." Das führe zu Wahlergebnissen wie jüngst in Ostdeutschland mit Erfolgen für die AfD.
Dücker mahnt: "Wenn wir uns nicht ausreichend mit unserer jüngsten Geschichte befassen, rächt sich das bitter. Freiheit und Demokratie sind keine Naturgesetze. Es ist unsere Verantwortung, zum Erhalt beizutragen."
Mit Blick auf wachsende Ablehnung von Geflüchteten in Deutschland sagt Dücker: "Etwa jeden Tag ertrinken Menschen im Mittelmeer - und wir ertrinken in Gleichgültigkeit. Wir in einem der reichsten Länder der Erde brauchen mehr Empathie für diese Menschen." Er weiß, wie es für Menschen mit Fluchterfahrung ist, auf die Hilfe zugewandter Mitmenschen angewiesen zu sein.