Hessen Hessische Grünen-Spitzenkandidatin Lührmann gibt 20 Prozent als Ziel für Bundestagswahl aus
Mit dem Spitzenduo Anna Lührmann und Omid Nouripour gehen die hessischen Grünen in die Bundestagswahl. Die beiden gaben nach langen Krisenmonaten ein ehrgeiziges Ziel aus - und erhielten hohe Zustimmungswerte. Spürbar weniger Stimmen bekam Tarek Al-Wazir.
In Berlin hat sich die Ampel-Koalition zerlegt, in Wiesbaden hat der komplette Landesvorstand der Partei den Rückzug angekündigt: Vor diesem Hintergrund demonstrierten die hessischen Grünen am Samstag in Marburg Geschlossenheit.
Rund 1.100 Mitglieder wählten ihre Kandidaten für die Landesliste zur Bundestagswahl am 23. Februar des kommenden Jahres. Den traditionell für eine Frau reservierten Spitzenplatz sprach der Parteitag mit 92,7 Prozent Anna Lührmann zu. Die 41 Jahre alte Bundestagsabgeordnete und Staatsministerin im Außenministerium für Europa und Klima hatte keine Gegenkandidatin.
In kämpferischem Ton gab sie ein Ergebnis von mehr als 20 Prozent als Wahlziel aus. Die Partei sei in Aufbruchstimmung und im Aufwind, wie die vielen Parteieintritte und steigende Umfragewerte seit dem Ampel-Aus zeigten.
Nach Angaben des Landesverbands sind seit Anfang November allein in Hessen mehr als 1.000 Menschen in die Partei eingetreten. Derzeit liegen die Grünen in Umfragen bei bis zu 14 Prozent. "Es wird ein harter Wahlkampf, es gibt viele Anfeindungen und es wird kalt", sagte Lührmann.
Fast 96 Prozent für Nouripour
Die Grünen würden für eine moderne Wirtschafts- und Klimapolitik "mit Verstand und Herz" gebraucht, sagte Lührmann. Dafür müsse auch die Schuldenbremse reformiert werden. Es mache zudem für Europa einen Unterschied, wer in Berlin regiere. Die Grünen müssten dafür sorgen, "dass nicht diejenigen gewinnen, die Trump feiern oder die bei Putin auf dem Schoß sitzen."
Auf Platz zwei geht der Frankfurter Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour in den Wahlkampf. Für ihn stimmten 95,9 Prozent der Mitglieder. Auch er hatte keinen Gegenkandidaten. Der 49-Jährige hatte vor kurzem nach einer Serie von Wahlniederlagen sein Amt als Co-Bundesvorsitzender der Partei abgegeben.
Das grüne Spitzen-Duo Anna Lührmann und Omid Nouripour (mitte) mit Landeschef Andreas Ewald
Nouripour begann seine Rede mit einem Blick auf Syrien und den Sturz des Machthabers Assad. Die Grünen seien die einzige Partei gewesen, die gewusst hätte, "dass man einem Massenmörder nicht die Hand schüttelt". Das zeige, dass die Partei mit Anstand und Voraussicht agiere.
Bei allen Fehlern, die auch die Grünen in der Ampelkoalition gemacht hätten, hätten sie immerhin nicht die Hände in den Schoß gelegt. Man habe, etwa bei den Energiepreisen, viel erreicht, um den Wohlstand zu sichern. "Aber es braucht noch viel mehr. Das braucht die Dekarbonisierung unserer Industrie, damit Stahl, Arbeit und Autobau in Deutschland weiterhin möglich ist."
Auch Al-Wazir auf Berlin-Kurs
Wie geplant stellte auch der frühere hessische Vize-Ministerpräsident Tarek Al-Wazir die Weichen für einen Wechsel aus der Landes- in die Bundespolitik. Der 53-Jährige aus Offenbach trat auf Platz vier an. Er bekam 80,5 Prozent - und damit spürbar weniger als Lührmann und Nouripour.
Er rief die Partei dazu auf, die Bundestagswahl als Chance zu begreifen. Die Grünen müssten den Bürgern die Angst vor Veränderungen nehmen, aber klar machen, "dass wir diese Veränderung brauchen, damit dieses Land und seine Menschen eine Zukunft haben". Sonst drohe der Industriestandort zu einem Industriemuseum zu werden. Eine Koalition aus CDU und SPD könne sich Deutschland nicht mehr leisten.
Anna Lührmann, dahinter Tarek Al-Wazir
Vor Al-Wazir auf Platz drei landete die Bundestagsabgeordnete Deborah Düring. Wie das Spitzenduo hatten auch sie und Al-Wazir hatten keine Gegenkandidaten. Kampfkandidaturen gab es dagegen im Wettbewerb um die weiteren als aussichtsreich geltenden der insgesamt 30 Plätze auf der Landesliste.
Ex-Landesvorsitzender fällt durch
Auf Platz 5 kam die Bundestagsabgeordnete Awet Tesfaiesus. Eine Auseinandersetzung zwischen zwei ihrer Fraktionskollegen um Platz 6 entschied Boris Mijatović aus Kassel deutlich für sich. Der Nordhesse ließ den früheren Landesvorsitzenden Philip Krämer aus Darmstadt hinter sich.
Krämer fiel auch durch, als er später noch einmal für Platz 8 antrat. Hier hatte Andreas May aus Wetter (Marburg-Biedenkopf) Erfolg. Krämer war 2021 nach zweieinhalb Jahren Amtszeit überraschend beim Versuch gescheitert, als Co-Landeschef wiedergewählt zu werden. Von den drei Kandidatinnen um Platz 7 setzte sich Ayse Asar durch, die frühere Staatssekretärin im hessischen Wissenschaftsministerium.
Derzeit neun Abgeordnete in Berlin
Neun Abgeordnete aus Hessen gehören derzeit der Bundestagsfraktion der Grünen an. Drei von ihnen hatten schon länger angekündigt, nicht noch einmal anzutreten: Bettina Hoffmann, Kordula Schulz-Asche und Wolfgang Strengmann-Kuhn. Die Mitglieder verabschiedeten das Trio mit langem Applaus im Stehen.
Anders als andere Parteien und auch andere grüne Landesverbände werden die Landeslisten der hessischen Grünen nicht von Delegierten aufgestellt, sondern in Mitgliederversammlungen.
Ein Antrag zu den Querelen
Die Querelen an der Parteispitze des Landesverbands spielten erst abends am Ende des Parteitags eine Rolle. Zu Streit führte das nicht: Einstimmig nahmen die Mitglieder eine Erklärung an. Hintergrund: Anfang der Woche hatte die Co-Landesvorsitzende Kathrin Anders überraschend ihren Rücktritt erklärt. Sie begründete das damit, dass eine angebliche Parteispendenaffäre nicht ausreichend aufgearbeitet werde. Es geht um Auslandsreisen des Co-Landesvorsitzenden Andreas Ewald nach Israel und in die USA.
Ewald und der restliche Vorstand wollen die Partei in Hessen noch bis zur Bundestagswahl führen. Danach soll umgehend der Weg für eine Neuwahl der Parteispitze in Hessen freigemacht werden. Ewald ist derjenige, der laut Landtagsliste für Al-Wazir ins Parlament in Wiesbaden nachrückt, falls dieser in den Bundestag wechselt.
Die Grünen folgten in Marburg, wofür die soeben zur Spitzenkandidatin gekürte Lührmann warb: In dem Antrag wird dem Landesvorstand gedankt, dass er noch bis zur Bundestagswahl im Amt bleibt, dann aber den Weg freimacht. Es wird konstatiert, die Debatte habe auch nach mehrfacher Prüfung durch den Bundestag "ihre Spuren hinterlassen".
Der Finanzrat der hessischen Grünen soll sich mit den Reisen befassen und auch beraten, ob neue Regeln für künftige Teilnahme an Reisen nötig sind. Dabei soll auch mit dem Finanzrat der Bundespartei kooperiert werden. Die innerparteiliche Debatte sei "nicht gut gelaufen", sagte Lührmann. Die Klärung offener Fragen sei wichtig. Der Fokus müsse nun aber auf dem Bundestagswahlkampf liegen. Die Grünen dürften sich nicht "selbst ein Bein stellen".
"Pfad des fairen Umgangs verlassen"
In einer kurzen, ruhigen Debatte äußerten sich alle Redner ähnlich. Es wurde aber auch scharfe Kritik darüber laut, wie der Streit um die Reisen des Noch-Vorsitzenden geführt worden sei. Grüne-Jugend-Landeschefin Senem Bozdag sah grundlegende Ansprüche der eigenen Partei missachtet. "Es ist feige, dass wir anonyme Schreiben rumschicken oder uns in Chats fertigmachen", sagte die Offenbacherin.
Es war ein anonymes Schreiben an Journalisten, dass die Debatte um Ewalds Reisen in Gang gebracht und weitere Vorwürfe gegen ein angebliches innerparteiliches Netzwerk aus Darmstädter Grünen erhoben hatte. Auch der Landtagsabgeordnete Christoph Sippel aus Melsungen (Schwalm-Eder) fand, es sei "der Pfad des fairen Umgangs" verlassen worden. Er dankte dem Vorstand um Ewald, dass er dennoch bis nach der Bundestagswahl weiter machen wolle.