
Hessen Kassel: Bewährungsstrafe für Ärzte nach Tod eines Kindes in HNO-Praxis
Ein kleiner Junge stirbt nach einem Routineeingriff in einer Kasseler HNO-Praxis. Öffentlich verhandelt wird der Fall nicht, ein Urteil gegen die Ärzte gibt es dennoch. Kritik an der Justiz wird laut.
Die Anklage der Staatsanwaltschaft Kassel richtete sich 2023 gegen einen damals 58-jährigen HNO-Arzt und einen damals 66-jährigen Anästhesisten. Zwei Jahre lang hatte die Behörde wegen des Todes eines dreijährigen Jungen in der Praxis des HNO-Arztes ermittelt. Dieser hatte 2021 dem Jungen unter Vollnarkose Polypen entfernt. Die Staatsanwaltschaft warf den Ärzten fahrlässige Tötung durch Unterlassen vor.
Die Ermittler beantragten einen Strafbefehl beim Amtsgericht Kassel. Nun gibt es eine Entscheidung des nordhessischen Gerichts in dem Fall - öffentlich verhandelt wurde nicht. "Beide Ärzte wurde jeweils zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Die Vollstreckung dieser Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt", teilte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Kassel auf hr-Anfrage mit. Beide Männer müssten zudem jeweils 5.000 Euro Geldbuße an eine gemeinnützige Einrichtung zahlen.
Die Ärzte gelten damit als vorbestraft. Die Urteile ergingen per Strafbefehl, einer Art schriftlichem Gerichtsverfahren. Damit kommt es wegen des Todes des Jungen zu keiner mündlichen und öffentlichen Hauptverhandlung vor Gericht.
Staatsanwaltschaft: Leben hätte gerettet werden können
Bestraft wurden die Ärzte für das, was mit dem Jungen nach der OP in der Praxis geschehen ist. Die Ärzte versäumten aus Sicht der Staatsanwaltschaft "pflichtwidrig und behandlungsfehlerhaft, den Aufwachraum mit der erforderlichen personellen und apparativen Ausstattung zu versehen".
Insbesondere fehlten demnach Geräte zur Überwachung der Vitalfunktionen des Jungen, also des Sauerstoffgehalts im Blut, der Herzfrequenz und des Pulses. Wäre all dies vorhanden gewesen, "hätte das Leben des Patienten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet werden können", ist die Staatsanwaltschaft überzeugt.
Anwalt: Opferrechte der Eltern verletzt
Die Eltern des verstorbenen Jungen hatten zum Zeitpunkt der Anklageerhebung beim Amtsgericht Kassel die Zulassung ihres Rechtsanwalts als Nebenklagevertreter beantragt. Damit wollten sie Einsicht in die Ermittlungsakten erhalten.
Doch dieser Antrag blieb erfolglos, wie ihr Anwalt Jorg Estorf am Montag beklagte: "Über die Zulassung zur Nebenklage seitens der Eltern des verstorbenen Kleinkindes wurde erst nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens durch das Amtsgericht entschieden. Dadurch wurden in der Strafprozessordnung vorgegebene Opferrechte massiv verletzt."
Zudem wundert sich der Anwalt darüber, dass die ursprünglich von der Staatsanwaltschaft Kassel erhobene Anklage auf Antrag der Angeklagten und seiner Verteidiger ohne Kenntnis der Nebenklage zurückgenommen wurde. "Bei einem Tötungsdelikt ein sehr ungewöhnlicher Vorgang", findet Estorf.
Richter für Ärztehaftung: Milde Justiz schreckt nicht ab
Den Ausgang des Kasseler Ärzteverfahrens sieht auch Tim Neelmeier kritisch. Er ist Vorsitzender Richter einer Arzthaftungskammer und einer Strafkammer am Landgericht Itzehoe (Schleswig-Holstein). Er tritt seit Jahren öffentlich dafür ein, dass Ärzte die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.
Dabei geht es Neelmeier nicht um ärztliche Kunstfehler, denn die könnten jedem passieren, wie er sagt. Sondern um die Fälle, bei denen Ärzte bereits vor Beginn einer fehlerhaften Behandlung wissen, dass sie medizinische Standards nicht einhalten. Insofern hält der Richter die Kasseler Urteile für zu milde. Sie entsprächen nicht der Linie höchstrichterlicher Urteile in den vergangenen Jahren.
Der Bundesgerichtshof (BGH) gehe in solchen Fällen von Körperverletzung mit Todesfolge aus, sagt Neelmeier. Die Verurteilung der Ärzte in Kassel wegen fahrlässiger Tötung entfalte keine abschreckende Wirkung. Doch andere Ärzte sollten wissen: "Niemand darf wissentlich Patienten einer vorhersehbaren Lebens- oder Gesundheitsgefahr aussetzen", so Neelmeier.
Dass sie von der Linie des BGH abweicht, bestreitet die Staatsanwaltschaft Kassel: "Entgegen Ihres Vorhalts entspricht die Antragstellung der Staatsanwaltschaft Kassel nach hiesiger rechtlicher Bewertung sehr wohl der höchstrichterlichen Rechtsprechung."
Anästhesist zeigte sich reuig
Nach Recherchen des hr verfolgten die beiden Ärzte in Kassel unterschiedliche Verteidigungslinien. Der Anästhesist zeigte sich Mitte 2024 reumütig und räumte seine Schuld ein. "Das Verfahren gegen den Mandanten wurde rechtskräftig per Strafbefehl abgeschlossen. Festgesetzt wurde eine Freiheitsstrafe von acht Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde", berichtete Anwalt Ralf Höcker im August 2024 auf hr-Anfrage.
Höcker schrieb weiter, laut kardiologischem Gutachten sei der Junge an einem unerkannten schweren Herzfehler verstorben: "Unabhängig von der Frage der strafrechtlichen Schuld fühlt sich der Mandant aber auf jeden Fall moralisch verantwortlich und hat daher der Beendigung im Strafbefehlsverfahren zugestimmt." Auf Nachfrage bei der Staatsanwaltschaft, welche Rolle ein möglicher Herzfehler des Jungen bei seinem Tod gespielt habe, bekam der hr bislang keine Antwort.
Über den HNO-Arzt berichtete die Staatsanwaltschaft damals, dass dieser "den ihm zur Last gelegten Tatvorwurf bestreitet". Deswegen werde die erhobene Anklage gegen ihn fortgesetzt.
Verteidiger: Verhandlung belastet Hinterbliebene
Der Anwalt des HNO-Arztes, Sascha Lübbersmann, verweist dagegen auf die unterschiedlichen Aufgaben und Verantwortungsbereiche der beiden Angeklagten. Entsprechend habe sein Mandant nach und nach mit der Staatsanwaltschaft und dem Gericht klären wollen, ob er sich seiner Verantwortung besser in einer Verhandlung oder mit einem Strafbefehl stellen solle. Daher seien die Verfahren getrennt worden und die Strafbefehle nacheinander ergangen.
Lübbersmann erwähnt in seiner schriftlichen Antwort auch, dass eine "Verantwortungsübernahme" im Rahmen einer Hauptverhandlung "immer auch eine nicht unerhebliche emotionale Belastung für die betroffenen Angehörigen des verstorbenen Jungen" darstelle. Diese Einschätzung gibt er in Klammern wieder. Man habe also mit der Wahl des Strafbefehls auch Rücksicht genommen auf die Hinterbliebenen.