Ein mehrstöckiges Verwaltungsgebäude, in dem nach einem Raketenangriff ein großes Loch klafft

Hessen Odenwälder Helfer in der Ukraine: "Wir müssen auch den Menschen helfen, die in der Kriegshölle leben"

Stand: 05.07.2024 14:50 Uhr

Generatoren, Lebensmittel, Baumaterialien: Ein Odenwälder Verein bringt Spenden tief in die Ukraine. Nicht weit entfernt von der Frontlinie beobachtet der Vereinsgründer, dass die Hilfe schwinde - dabei steige der Bedarf.

Von Max Kleemann

Eine riesige schwarze Wolke steigt über einem Wohngebiet im südukrainischen Odessa auf. Es ist der 24. Juni, eine Rakete hat in der Stadt einschlagen, wie so oft zuvor in der Schwarzmeermetropole. Dieses Mal hat eine russische Rakete ein Lager getroffen, drei Menschen verletzt und ein großes Feuer entfacht.

Oleh Kiper, der Oblastverwalter von Odessa, teilt die Nachricht von dem Angriff. Ein Video, das die riesige schwarze Wolke zeigt, erreicht auch Olaf Spiekermann. Der Rechtsanwalt aus Mossautal (Odenwald) befand sich gerade mal drei Stunden vor dem Raketeneinschlag noch in Odessa.

Mit seinem Verein Humanitäre Hilfe Odenwald organisiert Spiekermann Spendenaktionen, um Menschen in der Ukraine mit Hilfsgütern zu unterstützen. Die Gefahr und die Notlage für die Bevölkerung halten auch im dritten Jahr des russischen Angriffskriegs an.

Erstmals über die Grenze

Schon kurz nach Kriegsbeginn 2022 gründete Olaf Spiekermann seinen Verein. Am Ende der ersten von bislang fünf Sammelaktionen war die Sporthalle in Mossautal mit Spenden gefüllt. Zwölf Autos und Transporter, vollbepackt mit Hilfsgütern, fuhren damals nach Siret im Nordosten Rumäniens, um die Spenden an der ukrainischen Grenze abzugeben. Zurück fuhren sie mit über 100 Frauen und Kindern, die sich gezwungen sahen, aus ihrer Heimat zu fliehen.

In diesem Juni fährt Spiekermann mit drei anderen Vereinsmitgliedern zum ersten Mal über die Grenze. Es geht nach Odessa und weiter nach Osten, nahe der Frontlinie am Fluss Dnjepr. Unterwegs sind sie mit zwei Kleintransportern und einem Sattelschlepper, den sie mit mehreren großen Stromgeneratoren, einigen Matratzen und Stühlen beladen haben.

Zwei Frauen und zwei Männer vor dem Eingang eines großen Gebäudes in Odessa

Der Odenwälder Helfer Olaf Spiekermann und der ukrainische Pfarrer Kirill Bondarenko (rechts) mit den Leiterinnen des Kinderheims in Odessa.

Vor zwei Jahren habe es noch deutlich mehr Spenden gegeben, sagt Spiekermann. Jetzt seien es "vielleicht nur noch fünf Prozent von dem, was uns zu Beginn des Krieges gespendet wurde".

Die vier vom Odenwälder Hilfsverein fahren über Passau, Linz, Wien und Budapest ins Donaudelta. Dort gelangen sie mit einer Fähre in die Ukraine. Danach gerät der Konvoi ins Stocken. "Wir wurden alle paar Kilometer von polizeilichen Straßensperrungen oder Armee-Checkpoints kontrolliert. Es wurde genau geprüft, woher wir kommen und weshalb wir hier sind", erzählt Spiekermann.

Dieselgeneratoren laufen Tag und Nacht

In Odessa übergeben sie die vier Stromgeneratoren. Darauf ist die Stadt angewiesen, weil russische Angreifer große Teile der Stromversorgung im Land zerstört haben. "Egal ob tagsüber oder nachts, überall hört man Dieselgeneratoren tuckern, damit der Strombedarf der Menschen gedeckt werden kann", schildert Spiekermann.

Kirill Bondarenko, ein evangelischer Pfarrer in Odessa, organisiert humanitäre Hilfe in vielen Teilen der Ukraine. Er berichtet von einer andauernden humanitären Krise im Land. Viele Menschen aus dem Osten, wo die Russen stehen, flüchteten nach Odessa, sagt er: "Im Winter werden wir nicht genug Elektrizität haben, um diese Menschen ausreichend zu wärmen." Auch gebe es nicht genug Arbeitsmöglichkeiten in der Stadt. Odessa leide unter einer Flüchtlingskrise, beobachtet der Pfarrer.

Männer mit einem Stromgenerator auf einer regennassen Straße

Die Helfer laden in Odessa einen Stromgenerator aus.

Nicht alle Frauen und Kinder, die Bondarenko gerne vermitteln würde, finden Zuflucht in westeuropäischen Ländern. Aus diesem Grund seien sie angewiesen auf humanitäre Hilfe in der Ukraine selbst - etwa in Odessa.

In einem Heim für hilfsbedürftige Kinder aus der Ostukraine übergeben Spiekermann und die anderen vom Odenwälder Hilfsverein bei ihrem Besuch in diesem Juni Lebensmittel und Süßigkeiten. Im Gespräch mit dem hr beschreibt Spiekermann die Situation in Odessa als bedrückend. Man sehe, wie schön die Stadt, von der Teile zum Unesco-Welterbe zählen, in Friedenszeiten sein müsse, erzählt er. Und wie sehr die Menschen versuchten, trotz des Kriegs ein normales Leben zu führen.

Gesperrte Schwarzmeerküste

Die berühmte Schwarzmeerküste Odessas können die Besucher aus Hessen nicht genießen: Sie ist seit Kriegsbeginn gesperrt und vermint. Sie fahren auch am Skelett des sogenannten Harry-Potter-Schlosses vorbei, das Ende April von russischen Streubomben getroffen wurde und ausbrannte - es diente einer privaten Universität als Verwaltungsgebäude. Ab 22 Uhr gilt in der Stadt eine Ausgangssperre. Auch wenn die Frontlinie hunderte Kilometer weiter östlich verläuft: Der Krieg ist auch in Odessa allgegenwärtig, wie Spiekerman schnell merkt.

In Begleitung von Freiwilligen eines einheimischen Hilfenetzwerks reist Olaf Spiekermann allein ins weiter östlich gelegene Mykolajiw. Im Februar brach Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ihren Besuch dort ab, die Gefahr durch Drohnenangriffe wurde als zu groß eingeschätzt. Der Odenwälder Helfer wagt sich noch weiter nach Osten vor, so weit es eben geht, ohne in russische Vormarschgebiete einzudringen, wie er im Nachhinein berichtet.

Ein zerstörtes Haus in einer unbefestigten Straße in einem ukrainischen Dorf

Ein zerstörtes Haus im ukrainischen Dorf Partyzanske in der Oblast Mykolajiw.

Sie fahren über von Raketeneinschlägen vernarbte Straßen, vorbei an Blindgängern, die beim Aufprall nicht explodierten und aus dem Boden ragen, und vorbei an Feldern, in denen Landminen vergraben liegen. "Als über uns Raketen unterwegs waren, wurden wir auch nervös", sagt Spiekermann.

In ein großenteils zerstörtes Dorf

Ihr Ziel ist Partyzanske. Der kleine Ort wurde dem Deutschen von ukrainischen Helfern empfohlen, die sagten, dort stehe kein einziges intaktes Haus mehr. Unmittelbar nach Kriegsbeginn hatten russische Truppen Partyzanske zeitweise eingenommen und zahlreiche Einwohner getötet.

Mittlerweile liegt die Frontlinie etwa 50 Kilometer entfernt. Immer wieder hören Spiekermann und seine ukrainischen Begleiter in der Ferne die Einschläge von Geschossen. "Jetzt leben nur noch zweihundert Menschen in Partyzanske", erzählt der Mann aus Mossautal: "Sie leben in Zelten oder den Ruinen ihrer zerschossenen Häuser oder haben sich mit Planen notdürftig Unterkünfte geschaffen."

Menschen vor einem Haus mit beschädigtem Dachstuhl und rund um einen Transporter mit Hilfsgütern in einem ukrainischen Dorf

Helfer verteilen Spenden im Dorf Partyzanske.

Hier übergibt Spiekermann Spenden aus dem Odenwald, Möbelstücke, Lebensmittel, einige Baumaterialien. Bei weitem nicht genug, wie er findet. "Es gibt viele Menschen in der Ukraine, die nicht das Geld oder die Kraft haben, um nach Odessa zu kommen oder zu fliehen", sagt Spiekermann. "Auch diesen Menschen muss zwingend geholfen werden. Der Bedarf im frontnahen Osten des Landes ist größer denn je."

Um die 900 Kilometer ist Olaf Spiekermann in diesem Juni auf ukrainischen Straßen unterwegs. Er berichtet, keine einzige andere Hilfsorganisation und kein einziges ausländisches Kennzeichen gesehen zu haben. "Die Menschen dort sind alleingelassen", sagt er.

Hilfsgüter reichen nicht für alle

Was er stattdessen sieht: Militärfahrzeuge und militärische Ausrüstung. Der humanitäre Bereich sei in den Hintergrund geraten, kritisiert Spiekermann: "Wir müssen auch den Menschen helfen, die vor Ort geblieben sind und in einer Kriegshölle leben, um ihnen wieder eine Perspektive zu bieten."

Auch Pfarrer Kirill Bondarenko spricht über die missliche Lage der Menschen in der Nähe der Front. Diese könnten sich bei Raketenbeschuss kaum rechtzeitig in Sicherheit bringen. "Sie leben in ständiger Angst vor ballistischen Angriffen", sagt Bondarenko: "Das beeinflusst die Psyche der Menschen und löst post-traumatische Belastungsstörungen aus."

Zwei Männer vor einem kleinen Haus, dessen Mauern und Dach von Kriegsschäden repariert wurden

Zwei Bewohner von Partyzanske vor einem Haus, das von Kriegsschäden repariert wurde - als einziges im Ort.

Er bemerke, wie auch Europa langsam vom Krieg erschöpft sei, sagt der Pfarrer: "Im vergangenen Jahr haben wir noch viel mehr Hilfsgüter bekommen. Es ist traurig, dass wir den Menschen, die derzeit in Not sind, deswegen nicht richtig helfen können."

Zurück mit Kindern und Verletzten

Bondarenko sagt, er verstehe, dass der Krieg einige Länder wirtschaftlich unter Druck setze. "Aber der Preis, den wir in der Ukraine für die Sicherheit von Europa zahlen müssen, ist oft unser Leben", betont er. Er hoffe auf weitere Hilfsgüter. Umso länger Zivilisten im Süden und Osten des Landes ausharrten, desto größer werde deren Not.

Die Rückreise treten die vier Mitglieder des Vereins Humanitäre Hilfe Odenwald nicht allein an. Sie bringen vier Kinder und manche ihrer Familienangehörigen in die Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Gießen, darunter einen im Kriegseinsatz schwerverletzten Mann und eine schwerbehinderte Frau. Dass für sie in Gießen ein Platz ist, klärten die Helfer zuvor mit dem Landratsamt ab. Die Familien sollen nach Möglichkeit ein neues Zuhause im Odenwaldkreis finden.

Für Ende September plant Spiekermann, erneut nach Partyzanske zu fahren. "Das habe ich der Bürgermeisterin des Ortes versprochen", sagt er. Dann möchte er weitaus mehr Baumaterialien als in diesem Juni mitnehmen, um den Wiederaufbau dieses Orts nahe der Frontlinie im Ukraine-Krieg voranzubringen.