Die scheidenden Grünen-Vorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang beim Bundesparteitag in Wiesbaden

Hessen Omid Nouripour auf Grünen-Bundesparteitag in Wiesbaden: Abschied und Neuanfang

Stand: 15.11.2024 22:28 Uhr

Die krisengeplagten Grünen sortieren sich auf dem Bundesparteitag in Wiesbaden neu. Für den Restart vor der Bundestags-Neuwahl im Februar mit Kanzlerkandidat Robert Habeck muss einer von der Spitze weichen: Omid Nouripour, der "Realo-Haudegen" aus Frankfurt.

Von Sebastian Jakob und Wolfgang Türk

Es waren noch andere Zeiten, als die Grünen Anfang 2022 den Frankfurter Bundestagsabgeordneten Omid Nouripour mit satten 83,6 Prozent zu einem ihrer zwei Co-Vorsitzenden wählten. Und das nicht nur, weil der Bundesparteitag damals online stattfand. Es war Corona-Pandemie.

Russland hatte die Ukraine noch nicht angegriffen, die Krisenstimmung im Land ging noch nicht so tief. In Berlin waren die Grünen mit SPD und FDP noch Teil einer Ampel-Koalition, mit der laut ARD-DeutschlandTrend 46 Prozent der Bürger zufrieden waren. Und in Hessen waren sie mit der CDU noch am Ruder.

Nun ist die Ampel kaputt, die Grünen haben an einer langen Reihe von Wahlschlappen zu kauen und stehen bei gerade mal 12 Prozent in aktuellen Umfragen. So kam es, dass Nouripour am Freitagabend beim Bundesparteitag in der Wiesbadener Kongresshalle Abschiedsapplaus erhielt – ein gutes Jahr vor dem Ende der eigentlichen Amtszeit.

Bundesparteitag der Grünen startet in Wiesbaden

Es war ein Applaus, für den die Delegierten aufstanden. Nouripour, der umgängliche Mitgründer des Eintracht-Frankfurt-Fanclubs im Bundestag, ist noch immer beliebt.

In den Standing Ovations mochte aber auch Dank dafür liegen, dass der 49-Jährige wie der gesamte noch amtierende Bundesvorstand mit seinem Rückzug den Weg frei für eine Neuaufstellung macht. "Der Start sind wir" lautet das Motto des lange geplanten Parteitags. Er stellte sich nun als perfekt getimt auf die Bundestagswahl am 23. Februar heraus.

Dass er bei dem Neustart nicht an der Spitze dabei ist, hatte der Vorstand um Nouripour und die zweite Co-Vorsitzende Ricarda Lang schon im September entschieden. Da hatten es die Grünen in Brandenburg gerade nicht einmal mehr in den Landtag geschafft. Seitdem ist die Parteispitze nur noch geschäftsführend im Amt.

"Zwischen Merz und Scholz ist so unglaublich viel Platz"

Der Mann, der offiziell erst am Samstag durch die Neuwahl des Vorstands abgelöst wird, sagte am Freitagabend in der hessenschau: Sein Abgang sei ein "Gebot des Anstands". Und er fügte hinzu: "Ich hätte den Job gerne weitergemacht. Wir gehen, weil es nicht gut lief."

Auch wenn die Grünen derzeit in den Umfragen weit von einer Kanzlerschaft entfernt scheinen, geht der hessische Landtagsfraktionsvorsitzende Mathias Wagner von einer "Riesenchance" für Habeck aus. "Wir haben auf der einen Seite Friedrich Merz und auf der anderen Olaf Scholz. Zwischen den beiden ist so unglaublich viel Platz."

Tränenreicher Abschied

Er sei den Tränen nahe, meinte Wagner zum Abschied Nouripours. Tränen, die andere vergossen. Ricarda Lang zum Beispiel, die neben ihrem Noch-Amtskollegen saß. Sie charakterisierte den Frankfurter als humorvoll-verlässlichen "Realo-Haudegen".

In Wolfgang Ischinger hatte Nouripour auch einen ausdrücklichen Laudator. "Er ist eine wandelnde vertrauensbildende Maßnahme" – so lobte der Ex-Außenstaatssekretär, Ex-Top-Diplomat und frühere Chef der Münchener Sicherheitskonferenz den außenpolitischen Sprecher der grünen Bundestagsfraktion.

Das Lob übertrug Ischinger auf Grünen insgesamt: Sie seien in der zu Ende gegangenen Koalition die Partei gewesen, auf die bei der Hilfe für die in ihrer Existenz bedrohte Ukraine Verlass gewesen sei.

Aufruf zur Geschlossenheit

Die Kanzlerkandidatur Habecks, die am Sonntag in Wiesbaden zelebriert wird, zeigt: Nouripours Rückzug aus der Parteispitze ist keinerlei Absage an den von ihm und Habeck gleichermaßen geteilten pragmatischen Kurs. Neben dem Bundeswirtschaftsminister wird zum Abschluss des Parteitags Außenministerin Annalena Baerbock für das Wahl-Spitzenduo gekürt.

Am Freitagabend präsentierte sich Habeck in Wiesbaden als überzeugter Europäer. Die Antwort auf das "Erstarken autoritärer Regime" liege in der Europäischen Union, die "stark und stärker werden muss", betonte Habeck.

Vize-Kanzler Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock

Sie sollen zum Wahl-Spitzenduo der Grünen gekürt werden: Vize-Kanzler Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock.

Streit zwischen Flügeln soll es nicht geben. Er ist nicht ausgeschlossen, wenn nach dem emotionalen Auftakt Richtungsfragen auf der Tagesordnung des dreitägigen Parteitreffens stehen. Am Samstag etwa steht eine Debatte über Anträge an. Neben der Forderung nach Wiedereinführung einer Vermögenssteuer und einem Tempolimit geht es auch um die Migrationspolitik. Die Grüne Jugend will die Ablehnung weiterer Verschärfungen erreichen.

Grünen-Landesvorsitzende Kathrin Anders gab gegenüber dem hr die Parole aus: "Es muss deutlich werden, dass wir die Probleme der Menschen ernst nehmen und dass wir Lösungen präsentieren, die das Land nach vorne bringen." Die hessischen Grünen haben sich in der Vergangenheit häufig eher kompromissbereit gezeigt als andere in der Partei. Zuletzt fiel das im Streit über die Bezahlkarte für Asylbewerber oder in der Debatte über die Vorratsdatenspeicherung auf.

Gegangen, um zu bleiben

Dass die Grünen Aufbruchstimmung nicht behaupten, belegen ihrer Meinung nach die Mitgliederzahlen. Die Partei sei trotz der problematischen Regierungszeit weitergewachsen, alleine seit dem Ampel-Aus vergangenen Mittwoch um 9.000 Menschen. Derzeit sei die bisherige Höchstmarke von 140.000 Mitgliedern erreicht.

"Wir haben den Laden zusammengehalten", lautet Nouripours Bilanz. Sein Abschied aus der Parteispitze soll kein Abschied als Spitzenpolitiker sein. Er tritt am 23. Februar wieder für den Bundestag an, dem er seit 2006 angehört.

Die Landesliste für die Bundestagswahl bestimmen die hessischen Grünen auf einem vorgezogenen Parteitag in Marburg am 14. Dezember. Dann bewirbt sich neben Nouripour unter anderem auch Hessens früherer Vize-Ministerpräsident Tarek Al-Wazir um einen sicheren Listenplatz.